Drei Paradestücke mit Dagmar Manzel

Urplötzlich und senkundengleich taucht der ganzen Saal der Komischen Oper in ein tiefes Schwarz und ein Musiksturm braust los. Die Bühnen ebenfalls rabenschwarz. Zu sehen ist nur, per Spot angeleuchtet, der Mund von Dagmar Manzel. Augenblicklich beginnt sie zu monologisieren.

Samuel Beckett „ Nicht ich“

Nein es ist kein Beginn, es ist ein Start für einen Wettlauf gegen die Zeit.  In der vorhandenen Zeit müssen Erinnerungen mittels Wörter, Sätzen und Satzfragmenten noch schnell ihr Ziel erreichen, Zu sagen, was noch zu sagen ist von einer alten Frau um die Siebzig. Und ihre Gedanken überschlagen sich, platzen heraus voller Energie nach langem Schweigen. Ihre Erinnerungen und  Reflektionen. „Ich? – Nein! – Sie!“ Schnell bewegt sich der Mund, rhythmisch und melodisch. Der Redeschwall fließend, mal  lauter, mal leiser oder gar nur gehaucht, kaum pausierend. Zwischendurch kleine Lacher und Aufschreie, die das Gesagte in Frage zu stellen scheinen. Aber es geht weiter mit Wörtern, aneinander gereiht, mit den Bildern der Erinnerung, in einem Tempo,  das den Zuhörern vollste Konzentration abverlangt. Aber das alles begeistert durch Dagmar Manzels Mund, mit dem sie große Kunst zelebriert, mit klarer und präziser Wortakrobatik.

„Rockaby“- Samuel Beckett

Auch die nächsten zwei Monologe mit Solistin Dagmar Manzel, alle drei insziniert vom Intendanten und Chefregisseur Intendant und Chefregisseur Komische Oper Berlinr Komische Oper Berlin, Barrie Kosky, reißen die Zuschauer wieder mit. Faszinieren, fesseln. Der Einakter „Rockaby“, den Samuel Beckett 1981 im Auftrag der State University of New York zu einem Symposium anlässlich seines 75.Geburtstages schrieb, wird ebenfalls auf einer dunklen Bühne präsentiert. Eine alte Dame sitzt im Schaukelstuhl. Sie trägt ein elegantes, schwarzes Kleid, mit Pailletten besetzt, die durch einen Scheinwerfer glitzern. Ihr altes Gesicht ist weiß, ohne jegliche Mimik und Regung. Eine Lebensrückschau, gesprochen auf ein Tonband, schallt aus dem Off. Gedanken an einem Fenster“….an ihrem Fenster sitzen | ruhig an ihrem Fenster…“, die Suche und das Verlangen nach einer lebenden Seele, die Sehnsucht nach der Mutter, Gedanken an ihren Tod.
Professionell einfühlsam – natürlich – bestimmt Dagmar Manzels Stimme die Situation. Im Takt fließen die Beckettschen Worte. Wie das Pendel eines Metronoms bewegt sich der Schaukelstuhl gleichmäßig dazu. Beruhigend, einschläfernd. „Zeit, dass sie aufhört“. Vier Mal halten Worte und Schaukelstuhl inne, bleibt es still, bis ein „Mehr“ zum Weitererzählen, Weiterschaukeln und damit zum Weiterleben auffordert. Das Schaukeln geht weiter, aber das „Mehr“ wird schwächer. Bis es ganz ausbleibt. Die alte Dame ist eingeschlafen, einsam – für immer.

Arnold Schönberg „Pierrot lunaire“

„Pierrot lunaire“, das dritte Monodrama gab den Abend den Titel in der Komischen Oper.  Und wieder spricht, nicht singt, Dagmar Manzel.  Auch dieses Stück, „Pierrot lunaire“, Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds Pierrot lunaire  mit der Musik von Arnold Schönberg, scheint für sie geschrieben worden zu sein. Als Solodarstellerin spielt jetzt grandios auf der gesamten Klaviatur ihres schauspielerischen Könnens.
Noch vor seiner Zwölftontechnik entwickelte Arnold Schönberg mit der Vertonung – 1912 auf Bitten von Schauspielerin Albertine Zehmke – des Gedichtzyklus von Albert Girauds eine neue musikalische Ausdrucksform.  „In seinem Vorwort zum Pierrot lunaire  betonte Schönberg aber eindringlich, dass die Partie auf keinen Fall zu singen sei. Vielmehr habe der Ausführende die Aufgabe, sie unter Berücksichtigung der vorgezeichneten Tonhöhen in eine Sprechmelodie umzuwandeln, “schreibt Ulrich Lenz in dem Programmheft. Ein Bett, ein Teddy und das Licht des Mondes bilden das Zentrum der Bühne. Die Ausstattung. Die Sprechstimme von Pierrot begleiten in dem Schönberg Zyklus fünf Instrumentalisten an acht Instrumenten. Durch den Wechsel von Cello und Klavier, Piccolo- und großer Flöte, Violine und Viola, Klarinette und Bassklarinette erhält jedes der 21 Stücke unter der musikalischen Leitung von Christoph Breidler eine individuelle Klangfarbe.

„Pierrot lunaire“ Komische Oper Berlin, Foto: © gab
Sensationelle Dagmar Manzel

Im Wechsel zwischen den Tonarten entfaltet Dagmar Manzels ihren Sprechton dazu in einer bunten Vielschichtigkeit: sentimental, ängstlich oder leidvoll, parodistisch oder hoffnungsvoll. Immer perfekt fließend, rhythmisch und nie an Gesang erinnernd. wie von Schönberg gefordert. Pierrot – ein echter Charakter, angelehnt an die Figuren der Commedia dell’arte, die ihre Ursprünge in Bergamo hatte. Hierhin zieht es Pierrot nach all seinen erzählten Geschichten u.a. über Colombine, den kranken Mond, die Rote Messe, die Enthauptung, den Mondfleck und Heimweh schließlich in der Heimfahrt zurück. Nach knapp 40 Minuten, nach einem Feuerwerk intensivster Schauspiel- und Sprechleistung steht Dagmar Manzel im Abschlusßbild allein auf dem Bett und bewegt nur noch stumm den Mund.
Ein uneingeschränkt großartiger Abend mit einer großeartigen, exzellenten Schauspielerin.

 

Artikelfoto: Programmheft  und Eintrittskarte, © gab