Das Ende: der Vorhang fällt, orkanartiger Beifall, standing ovations. Der Vorhang öffnet sich, Inge Keller sitzt auf ihrer Bank, aufrecht, stolz, schön. Ein Gesicht, wie gemeißelt, die Augen saugen das Publikum ein, genießen den Jubel. Der Vorhang fällt. Öffnet sich wieder: Inge Keller noch immer in der gleichen stolzen Haltung, sichtbar gerührt, die Hand geht zum Herzen, dankbares Nicken. Der Vorhang fällt, öffnet sich zum dritten Mal: Jetzt steht sie am äußeren rechten Rand der Bühne, ihr Kollege Bernd Stempel neben ihr, ein sanfter, beschützender menschlicher Schirm. Ein anrührendes Bild: zierlich, zerbrechlich steht sie da, noch immer umbraust vom Beifall und Jubel. Ihr Blick geht über die Reihen, ins Publikum – ihr Publikum, das sie feiert. Ihre Bühne, ihr Theater, ihr Triumpf. Diese Bilder bleiben, prägen sich unauslöschlich ein.
Der Abend: ein Genuss in Vollendung. Nicht, weil es ein aufregendes Stück ist, nein, es ist eine szenische Lesung, ohne Aufregung inszeniert. Aber darum geht es nicht, es ist das große Aufeinandertreffen zweier Schauspielerinnen, die einmalig in der Theatergeschichte sind: Tilla Durieux und Inge Keller. Beide Staatsschauspielerinnen, beide Ehrenmitglieder am Deutschen Theater in Berlin. Die Keller liest, spricht die Durieux. Leitfaden: die Biographie ‚Meine ersten 90 Jahre‘. Als „Hirschkuh, welche Paprika gefressen hat“, begrüßte 1903 der strenge Alfred Kerr die schöne, temperamentvolle Debütantin Tilla im Berliner „Deutschen Theater“. Wie Inge Keller begrüßt wurde ist nicht bekannt – aber es hätte ähnlich klingen können. Wir erleben hier in den Kammerspielen eine wunderbare und wundersame Symbiose. Keller wird zu Durieux und die Durieux spricht durch Inge Keller als wäre die es auch. Einige Anspielungen auf den Theaterrummel heute, auf die Sprechkultur an den Theatern, das sind dann auch schon Spielereien von Inge Keller. Dann aber beginnt die Verzauberung, der Spaziergang durch ein faszinierendes Schauspielerleben, durch die Ehe mit Paul Cassirer, durch deutsche Geschichte, durch deutsche Kunst und Künstler. Allein wie Inge Keller die Begegnung mit Liebermann spricht und mit wenigen treffenden Gesten schildert ist ein Erlebnis für sich.
Immer wieder Andeutungen, Verzögerungen, das Spiel mit den Worten, mit der Sprache. Kleine Gesten, kleine Fluchten in Pausen, die Blicke, das Spiel der Mundwinkel, die leichte Gesichtsmimik – Minimalismus in Vollendung, mit maximaler Wirkung.
Immer hier bleiben, ein zartes Leuchten geht über ihr Gesicht, Melancholie, wie ein feiner Nebel. Die Stille der Nachdenklichkeit ist greifbar. Ein Theaterwunder: hier hört man die Stille, die Stille der Nachdenklichkeit, der Phantasie, aber auch in der Stille eine ungeheure Neugier, die Inge Keller nicht verlässt.
Und dann die Stimme: mal sanft säuselnd, ironisch, dann beiläufig, dann fast kindisch hoch und schließlich die kraftvolle, alles durchdringende Tiefe. Noch heute kann ihre Stimme eine Bahnhofshalle ausfüllen. Eine grandiose, bewundernswerte Leistung. An ihrer Seite Bernd Stempel, als Diener, Freund, Zuhörer, aber auch als Tänzer, Gitarrenspieler und als Paul Cassirer – auch das sind wunderbare Momente voller Zurückhaltung, Zartheit. Fast eine japanische Tuschezeichnung. Eine Kollegin schreibt in der FAZ: ‘ Wenn Inge Keller spricht und spielt und zaubert, geschieht ein Wunder: die Zeit steht still. So gelingt es dieser grandiosen Künstlerin der Sieg über die Schwerkraft – für sich und zumal für uns‘.
‚Tilla‘ umschmeichelt, umspielt Hirn, Herz und Seele – frisst sich ein. Bleibt. Dank der großartigen Inge Keller.