Quelle: der Tagesspiegel 18.05.2015 Autor: Patrick Wildermann
Was für eine Persönlichkeit! Die Hamburger Schauspielerin Gala Winter wurde beim 52. Berliner Theatertreffen mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis ausgezeichnet.
Von vielen Momenten, in denen man sich als Zuschauer während des Theatertreffens „unwohl, aber auch gefordert fühlte“, spricht der Intendant der Berliner Festspiele Thomas Oberender in seiner Begrüßung zur 21. Verleihung des Alfred-Kerr-Darstellerpreises. Eine Auszeichnung, die verliehen wird, um eine herausragende Nachwuchsleistung zu würdigen. Was gut und wichtig ist. Aber angesichts all der Krisen, Kriege und Katastrophen, die in diesem Jahr Thema der Inszenierungen waren und die auch sonst der Kunst ins Handwerk funkten, stellt sich natürlich die Frage: Genügt das?
Eine Reihe von Diskussionen während des Theatertreffens hätten jedenfalls gezeigt, so Oberender, dass es „längst nicht mehr nur um gut gemachte Kunst geht“.
„Diese Zeit braucht klare Worte und handelnde Menschen“. Das wiederum ist ein Satz, den die Schauspielerin Wiebke Puls, Trägerin des Alfred-Kerr-Darstellerpreises 2005, in einem Gastbeitrag auf dem diesjährigen Theatertreffen-Blog geschrieben hat, den der Intendant zitiert. Wiebke Puls stellt darin eine Menge Fragen an die eigene Rolle als Schauspielerin und spielende Co-Autorin. Sie versucht, das gelernte Handwerk mit den vielen neuen Anforderungen in Einklang zu bringen. Und sie bekennt sich auch zu Ratlosigkeit und gemischten Gefühlen. Was ja sein darf, wenn die Zeichen auf Umbruch stehen.
Sie spielt am Hamburger Schauspielhaus
Bemerkenswert: Auch Günther Rühle, der Präsident der Kerr-Stiftung, fühlt sich zu einem politischen Statement herausgefordert: „Plötzlich begreift man, dass Flüchtlingstragödien unsere Sache sind“, sagt er in seiner Rede mit Blick auf den Theatertreffen-Jahrgang. Und spitzt sein Umkreisen („Die künftige Arbeit wird Bewusstseinsarbeit sein“) in der Frage zu: „Wohin geht das Theater?“
Was, so Günther Rühle, auch die Frage gewesen sei, mit der sich der jüdische Kritiker Alfred Kerr während der Nazizeit ins Exil verabschieden musste. Eigentlich hatte Rühle ja nur die Kerr-Gedichte ankündigen wollen, die Thomas Thieme und Gerd Wameling vortragen. Und die den Kritiker als „großen Liebenden“ und „Erotomanen“ zeigen, so der Vorsitzende der Kerr-Stiftung Torsten Maß. Aber sinnliche Zeilen allein – das ist eben nicht mehr genug.
Der Schauspieler Samuel Finzi, der diesjährige Juror des mit 5000 Euro dotierten Alfred-Kerr-Darstellerpreises (was die Tagesspiegel-Stiftung mitermöglicht), stand ja noch nie im Ruf, sich mit seinem Spiel in Schönheit zu erschöpfen. Und Finzi gibt als Juror wie nebenbei eine Antwort darauf, was vom Schauspieler heute mehr denn je verlangt ist: der genaue, unbestechliche Blick nämlich. Wie sonst hätte er auf die junge Schauspielerin Gala Winter als Preisträgerin verfallen können, die in Karin Henkels Inszenierung von Ibsens „John Gabriel Borkman“ am Hamburger Schauspielhaus die Frida Foldal spielt? Vielen Zuschauern ist diese Rolle im Trubel des Festivals kaum aufgefallen.
„Ich dachte bis eben, das sei eine Verwechslung“, bekennt die sichtlich gerührte Preisträgerin Winter. Aber nein. Das ist die Realität, das Hier und Jetzt. Patrick Wildermann
Laudatio auf Gala Winter / Von Samuel Finzi
Diesmal habe ich das Theater fleißig mitgemacht. Zwei Rollen wurden mir zugeteilt: die des Schauspielers, der an einer der auserwählten Inszenierungen beteiligt ist, und die des konzentrierten Beobachters, der den Auftrag bekommen hat, in einer dieser auserwählten Inszenierungen einen jungen Menschen, dessen Talent und Persönlichkeit nach besonderer Aufmerksamkeit und Schutz verlangen, ausfindig zu machen. Trotz der leicht schizophrenen Situation, in die ich mich selbst reingebracht habe, würde ich die erste Rolle schaffen – ist ja nicht das erste Mal, und 25 bin ich auch nicht mehr, dachte ich. Aber die andere Rolle, die des Jurors, die war mir völlig neu.
Ich muss jetzt Entscheidungen treffen, urteilen über andere, über Menschen, die dasselbe machen wie ich, sie enttäuschen oder beglücken. Was für Kriterien stelle ich auf, nach welchem Maß gehe ich, bin ich in der Lage zu sagen, ob einer oder eine besser ist als die anderen, darf ich das überhaupt, vielleicht hatte er oder sie einen schlechten Abend, vielleicht habe ich einen schlechten Abend …? Und dann: Die Inszenierung sagt mir nicht zu, kann ich trotzdem den Preisträger dort erkennen? Oder: Was für ein großartiger Abend, ich kann aber keinen hervorheben, es ist ein Organismus, der da agiert. Und es sind so viele so junge, gute und selbstbewusste Spieler da. Eine verdammt schwere Angelegenheit!
Ich saß im Zuschauerraum und dachte über unseren Beruf nach. Warum gehe ich auf die Bühne? Was ist mir wichtig? Wonach sehne ich mich beim Spielen? Welche Mittel würde ich mir erlauben zu benutzen, um eine Figur zu erzählen? Wie weit ist heutzutage Identifikation mit der Figur überhaupt noch möglich? Worüber kann ich noch erzählen beim Spielen? Wie viel von meiner Persönlichkeit gebe ich preis? Verstecke ich mich nicht zu sehr hinter dem Text, der Figur …? Fragen über Fragen, die mir am Ende wieder gezeigt haben, wie einsam dieser Beruf doch ist und wie intim der Vorgang des Spielens. Und dass eigentlich in dieser Intimität sehr viel Schönheit und Kraft verborgen ist.
Ich wurde einige Male von Inszenierungen, Texten und Schauspielern überrumpelt, die mir mit aller Kraft, Können und Dringlichkeit zeigen wollten, was ich unbedingt zu denken und zu fühlen habe. Es war laut, groß, viel und sehr effektvoll. Ich wurde oft verführt und glaubte, ich hätte meine/n Preisträger/in gefunden. Bis ich Gala Winter sah, als Tochter Frida in Karin Henkels Inszenierung von Ibsens „John Gabriel Borkman“. Laut Autor: ein 15-jähriges Mädchen. Auf der Bühne stand ein zartes und zerbrechliches, aber doch selbstbewusstes Wesen, noch desorientiert und deshalb voller Sehnsüchte.
Gala Winter konnte mir etwas erzählen – über einen Menschen und eine Situation. Und dazu brauchte sie nicht viel. Ihr hilflos-aufdringlicher Blick, die kaputten sparsamen Bewegungen, die Stimme bei ihrem unglaublich schönen brüchigen Gesang am Ende der Aufführung. Sie zeichnete ihre Figur mit ein paar Strichen und überließ sie mir, dem Zuschauer.
Die Transparenz, mit der sie das machte, öffnete mir Räume, sie schüttete mich nicht zu mit Behauptungen, sondern gab mir die Freiheit, zu denken und zu empfinden. Was für eine Persönlichkeit! Und das mit nur 24 Jahren!
Ich vergaß meine Fragen und war glücklich. Vielen Dank, Gala Winter!