Bei der Unmenge von Zigaretten, die sein Held Mario Conde wegraucht, dürfte den meisten Lesern die Luft wegbleiben. Auch sein Schöpfer Leonardo Padura ist Kettenraucher, und es ist ein wahres Glück, dass er es beim Treffen in einem Berliner Hotel schafft, eine gute Stunde auf sein Laster zu verzichten, das auch die Zigarre einschließt.
Leonardo Padura, 1955 in Havanna geboren, ist derzeit Kubas erfolgreichster Schriftsteller, auch wenn er gestehen muss: „Jedes Mal, wenn ich einen Roman beende, denke ich, dass er in meinem Land nicht erscheinen darf. Und dann wird er doch veröffentlicht.“ Der letzte mit dem Titel „Der Mann, der Hunde liebte“, verkaufte sich weltweit über 100 000 Mal. Padura rechnet darin mit dem Stalinismus ab, indem er die Biografie von Leo Trotzkis Mörder nachzeichnet, der seine letzten Lebensjahre auf Kuba verbrachte.
Von Padura kennt man hierzulande vor allem seine Krimi-Serie „Das Havanna-Quartett“
In Deutschland ist Padura vor allem durch seine Krimi-Tetralogie „Das Havanna-Quartett“ bekannt geworden. Seinen von der Realität des Tropensozialismus enttäuschten Helden Mario Conde lässt der Autor zwischen „todmüden Fassaden“ und gesellschaftlichen Abgründen durch die kubanische Hauptstadt streifen. Conde, der vor vielen Jahren den Polizeidienst quittierte und sich seither als Händler antiquarischer Bücher und Privatermittler durchschlägt, ist für Padura ein Enkel von Chandlers Philip Marlowe und ein Sohn von Manuel Vázquez Montalbáns Pepe Carvalho. Conde allerdings raucht ausschließlich kubanisches Kraut, betrinkt sich mit Rum von der Zuckerinsel und ist der traditionellen Küche seines Landes verfallen.
Auch „Ketzer“, Paduras soeben in brillanter deutscher Übersetzung erschienenem Roman, lebt von Conde. Die komplexe Geschichte verläuft vom Amsterdam Rembrandts und Spinozas um 1640 über Krakau bis nach Havanna, wo 1939 ein Dampfer mit jüdischen Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland einläuft. Von dem kubanisch-amerikanischen Nachfahren einer jener Flüchtlingsfamilien beauftragt, soll Conde herausfinden, wer das verschwundene Christusbild von Rembrandt an sich gerissen hat, das über Jahrhunderte im Familienbesitz gewesen und plötzlich auf einer Auktion in London aufgetaucht war. Conde, wie eh und je vom „heimtückischen Gefühl des Scheiterns“ durchdrungen, begibt sich 2007 in Havanna auf die Suche.
Padura versteht sich und seinen Protagonisten als Angehörige einer „verborgenen Generation“. In „Ketzer“ schreibt er von „älter gewordenen, gescheiterten Männern, die sich in ihre Schlupfwinkel verkrochen und zur enttäuschtesten, kaputtesten Generation innerhalb des im Entstehen begriffenen neuen Landes entwickelt hatten.“ Die Musik, die Conde und seine Freunde hören, ist weder Reggaeton oder stammt gar vom Buena Vista Social Club, es sind die „urwüchsigen Gitarrenklänge“ von Creedence Clearwater Revival, einer kalifornischen Band, die einst in Kuba geächtet war.
„Meine Generation“, sagt Padura, „ist die erste, die massenweise an der Universität studieren konnte. Es handelt sich um die am besten ausgebildete Generation in der Geschichte Kubas. Danach ist der Zugang zum Studium eingeschränkt worden. Ein akademischer Abschluss versprach damals ein Gehalt, von dem man leben konnte. Das gibt es heute nicht mehr. Auch Mario Conde ist ein Vertreter dieser Generation, die in Kuba nie ein eigenes Gesicht hatte. Es gibt hier einen Schriftsteller, dort einen Maler oder Musiker, doch als Generation hat sie sich nicht profilieren können, ihr Werdegang wurde durch die Krise gestoppt.“
Wie andere seiner Generation antwortete Padura auf Kubas Misere mit einer „Literatur der Enttäuschung“
Ausgelöst wurde diese Krise durch den Zerfall der Sowjetunion, die Kuba mit ihrer Wirtschaftshilfe jahrzehntelang ein üppiges Dasein beschert hatte. Als Fidel Castro 1990 eine „Sonderperiode“ ausrief, wurde die einheimische Produktion auf ein Minimum gedrosselt, die Bevölkerung sah sich durch Güter- und Lebensmittelrationierungen an den Rand der Armut gedrängt. „Das waren die Jahre, in der die Eltern das einzige Brötchen, das sie hatten, nicht aßen, damit ihr Kind zwei Brötchen hatte: eines zum Mittag-, das andere zum Abendessen. Wenn du erleben musst, dass du nur ein Brötchen am Tag hast, glaubst du an nichts mehr. Du siehst eine unfähige Regierung, die weder dir noch deinen Kindern garantieren konnte, dass deine jahrelange Arbeit, deine Anstrengung und Aufopferung eines Tages Früchte tragen würden. Das war ein schweres Trauma.“
Auf diese Misere antworteten außer Padura kubanische Schriftsteller wie Senel Paz, Arturo Arango und Ena Lucía Portela mit einer „Literatur der Enttäuschung“. Sie bezieht sich, so Padura, „auf das Versprechen einer besseren Gesellschaft, das nicht eingelöst wurde.“ Und er fügt hinzu: „Dieses literarische Konzept beansprucht bis heute Gültigkeit.“
Paduras Roman „Ketzer“ ist ein leidenschaftliches Plädoyer für tolerantes Denken
Mario Conde, sagt Padura, „war 35 Jahre alt, als die Krise einsetzte, und ihm blieb nichts mehr zum Leben. Er ist nicht mein Alter ego, doch in den Romanen blickt er durch meine Augen. Durch ihn beschreibe ich meine Wahrnehmung der kubanischen Realität.“ Gewöhnliche Genrekrimis schreibt Padura nicht. Seine Bücher beschäftigen sich, wenn auch meist in der Form eines Roman noir, im Kern mit sozialen Problemen und Konflikten. Es geht in ihnen um Freiheit, Totalitarismus, Hoffnung und Werteverfall, Opportunismus und das Drama des Exils. Zugleich beansprucht Padura mit seinen Themen Allgemeingültigkeit. Mit „Ketzer“ ist ihm das wieder gelungen.
Er stellt darin die Frage nach der individuellen Freiheit. „Ich glaube“, sagt Padura, „dass sie sich daran bemisst, ob die Möglichkeit, einen Wunsch zu hegen, sich auch verwirklichen lässt.“ Insofern ist „Ketzer“ ein leidenschaftliches Plädoyer für heterodoxes, tolerantes Denken überall.
Padura spannt den Bogen weit – vom nonkonformistischen Rembrandt als Verfechter künstlerischer Freiheit über den gelehrten Bilderstürmer Menasse ben Israel bis zur Figur des zweifachen Konvertiten Daniel Kaminsky im 20. Jahrhundert – und eben zum widerständigen Conde der Gegenwart. Wie Padura in dieser jüdischen Familiensaga die dramaturgischen Fäden spinnt, ist ein Meisterstück.
Spürsinn und Akribie bei seinen kulturhistorischen Recherchen hatte Padura bereits während seiner journalistischen Arbeit entwickelt, die er nach dem Studium der Literaturwissenschaft 1980 begann. Er schrieb für die Kulturzeitschrift „El Caimán Barbudo“, 1983 wurde er jedoch zum Blatt „Juventud Rebelde“ strafversetzt, „weil es“ – Padura lacht – „ideologische Probleme gab.“ In der neuen Redaktion wiederum konnte er einem Schreiben nachgehen, das in Kuba unüblich war: „Ich mischte Erzähltechniken mit Fantasie und historischer Recherche. Noch heute spricht man von jenem literarischen Journalismus der ,Juventud Rebelde“ als einem Glanzlicht.“
1995 beschloss Padura, Schriftsteller zu werden, ohne dass er damit zunächst seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Die Gängelung durch den Parteiapparat war er leid. Bis heute schreibt er jedoch regelmäßig Kolumnen für die Nachrichtenagentur IPS und „Folha de São Paulo“, Brasiliens Zeitung mit der höchsten Auflage. „Ich habe also seit 1980 nie aufgehört, Journalist zu sein.“ Bis heute mischt er sich in aktuelle Debatten seines Landes ein.
Seine Bücher sind in Kuba nach und nach alle erschienen, wenn auch in geringer Auflage. Dass Padura 2012 den Nationalpreis für Literatur erhielt, sieht er nicht als Ritterschlag, sondern als „eine späte Folge davon, dass in Kuba nicht mehr derselbe Geist herrscht wie in den 70er und 80er Jahren. Ich habe in den letzten Jahren in ziemlicher Freiheit arbeiten können. Allerdings habe ich günstige Bedingungen, denn meine wichtigsten Verlage befinden sich außerhalb Kubas.“
Und was denkt die kubanische Regierung über Leonardo Padura? „Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht wissen. Meine Bücher werden, im Vergleich zu anderen Schriftstellern, kaum gefördert. Aber vielleicht ist das der Preis, den ich für meine Unabhängigkeit zahle. Ich zahle ihn gern.“ Und er geht er auf die Straße, um sich endlich eine Zigarette anzustecken.
Leonardo Padura: Ketzer. Roman. Aus dem kubanischen Spanisch von Hans-Joachim Hartstein. Unionsverlag, Zürich 2014. 656 Seiten, 24,95