Quelle: der Tagesspiegel 27.07.15
Ein Biograf aus Prinzip
Mit 78 Jahren schrieb er sein „Lebensbuch“ auf 1300 Seiten (Das Herz in der Luft, S. Fischer Verlag Frankfurt 2013), nun, mit 80, ist er am Sonnabend in Köln gestorben: Dieter Kühn, dessen Vorliebe als Autor der Konstruktion und Rekonstruktion von – wahren und erfundenen – Lebensläufen galt. Ihre Bibliografie führt von seinem biografischen Erstling „N“ (1973, über Napoleon Bonaparte) über die Geschichte einer Wirtschaftskriminellen von historischem Format („Die Präsidentin“, 1973) bis zu seinem Bestseller „Ich Wolkenstein“, eine Biografie des mittelalterlichen Sängers, Dichters und Politikers Oswald von Wolkenstein.Kein Zufall, dass Kühn sein Studium als Germanist mit einer Dissertation über Musils „Mann ohne Eigenschaften“ abschloss. Inzwischen werden schon Diplomarbeiten über ihn und seine biografische Methode geschrieben (Die Biografie in Dieter Kühns Werken, Wien 1988). Was sie charakterisierte, war die zweite – oder besser dritte – Dimension seiner Biografik, Lebensläufe nicht linear abzuschildern, sondern durch mögliche Varianten und die Hereinnahme des Erarbeitungsprozesses plastisch werden zu lassen.
Und er hatte noch mehr vor: Zu seinem 80. Geburtstag im Februar gab er unter dem Titel „Die siebte Woge“ Einblick in nicht verwirklichte Projekte, aufgebene und solche, auf die er vielleicht noch zurückgekommen wäre. Zuzutrauen war es dem nimmermüden Dichter, dessen Lebenswerk rund 70 Bücher, neun Theaterstücke und rund 60 Hörspiele umfasst. Nicht zu vergessen seine Kinderbücher („Der Herr der fliegenden Fische“, 1979) Mit dem Stadtschreiber-Literaturpreis 1993 ausgezeichnet, schrieb er für das ZDF seinen einzigen Fernsehfilm „Die Reise nach Surinam. Elektronisches Tagebuch des Stadtschreibers“.
Hoch gerühmt waren seine kongenialen Übersetzungen mittelhochdeutscher Dichtungen Gottfried von Straßburgs, Neidhart von Reuentals und Wolfram von Eschenbachs („Parzival“, 1994). Sie waren so erfolgreich, dass er sein übrigens Werk manchmal ihrem Schatten stehen sah. Zu Unrecht, wenn er Literaturpreise und Auszeichnungen in mehreren literarischen Gattungen erhielt, darunter den Hörspielpreis der Kriegsblinden, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Künste und zuletzt die Carl-Zuckmayer-Medaille 2014. Er war Mitglied des PEN-Club und Poetik- Gastdozent der Universität Frankfurt. Dass er dennoch klagte, in Sachen öffentlicher Anerkennung zu kurz gekommen zu sein, beruhte wohl weniger auf Tatsachen als auf subtilen Kränkungen, die er durch Jurys und Verleger erfahren hatte. In seinem „Lebensbuch“ zitiert er die hingeworfene Bemerkung eines ungenannten Jurors, er habe „eben keine Lobby“ und die kränkende Einschätzung seines ersten Verlags Suhrkamp nach zwei Jahrzehnten der Zusammenarbeit, seine „komplexen Schreibweisen, wie sie in den siebziger Jahren akzeptiert wurden“, seien „heute nicht mehr ‚in’“. Aber konnte das ein Vorwurf sein? Kühn brauchte jedenfalls keine besondere Lobby, um beim S. Fischer Verlag eine neue Verlagsheimat zu finden, wo seit seinem Verlagswechsel noch über 20 Titel erschienen.
Von Sinn und Zweck seiner „komplexen Schreibweise“ zeugt am eindrücklichsten sein „Lebensbuch“, das eine Spanne von fast 80 Jahren unter drei deutschen Staatswesen umfasst: Eine Kindheit im „Dritten Reich“ in ständiger Furcht der Eltern vor der Entdeckung des jüdischen Familienzweigs, Jugendjahre zwischen Neuanfang und Restauration in der Adenauer-Republik, die frühe Entdeckung der Liiteratur und die ersten Erfolge als Autor, politische Ehrenämter und schließlich das „große Fest der Wiedervereinigung“, das Kühn in Halle mitfeierte. Allerdings ohne sein Befremden zu verbergen, als die alten und neuen Mitbürger die erste Strophe des Deutschlandlieds anstimmten – „…über alles in der Welt“.
Ein eher deprimierender Ausflug in die Vergangenheit führte ihn nach Königsee in Thüringen, an den Kindheitsort und Familiensitz früherer Kühn-Generationen. Und er wäre nicht Dieter Kühn gewesen, wenn er nicht auf über 60 Seiten des Lebensbuches seinen Stammbaum bis zu einem Familienwappen im 16. Jahrhundert rekonstruiert hätte, um dann vielversprechend zu klagen: „Keiner der Vorväter in Thüringen hat eine Autobiografie hinterlassen. Doch es gibt Vorlagen, nach denen sich solch eine Lebensbeschreibung entwerfend rekonstruieren ließe.“ Die Versuchung muß groß gewesen sein, dies nach der eigenen Methode nachzuholen. Die Gelegenheit und Zeit dazu blieb ihm nicht mehr.