Henning Mankell war Krimigenie und altlinker Moralist. Er schrieb nicht nur Bestseller, sondern auch stets gegen die Ungerechtigkeiten der Welt an. Erinnerungen an einen Wütenden.
Zum Tode Henning Mankells:Düsterer Aufklärer
Von Gerhard Spörl
Zum letzten Mal traf ich Henning Mankell vor fünf Jahren in Berlin. Zwei Tage vorher war er aus einem israelischen Gefängnis entlassen worden. Dort war er gelandet, weil er auf einem von sechs Schiffen Hilfsgüter nach Gaza bringen wollte. Dazu hätten sie die Seeblockade durchbrechen müssen. Israelische Spezialeinheiten kaperten die Schiffe. Neun Menschen kamen ums Leben. Mankell war wütend über die Behandlung. Über die Toten, über das Unrecht, das den Palästinensern angetan wird, über die Mauern, die Israel baut, über die Unterdrückung, über den ewig falschen Lauf der Geschichte.
Mankell war, was offenbar zur Grundausstattung guter Krimiautoren gehört, ein linker Moralist und ein engagierter Mensch. In Berlin erzählte er, dass er bald wieder nach Maputo fliegen wolle. Afrika war sein Seelenkontinent, Maputo sein zweites Zuhause. Dass er dort das „Teatro Avenida“ mit Manuela Soeiro leitete, war keine Laune. Am Theater in Stockholm hatte er jung begonnen, vom Theater aus wollte er die Gesellschaft demaskieren. Er war 19 Jahre alt, als er sein erstes Stück inszenierte. Nach der Premiere wollte er Wein kaufen, bekam aber keine Flasche ausgehändigt, weil er zu jung war.
Mankell schrieb in Maputo Stücke für die Schauspieler, nannte sich Intendant und ließ Ibsen, Strindberg und Tennessee Williams aufführen. Daneben gab es Eigenproduktionen, zum Beispiel über Waisenkinder, mit denen die Schauspieltruppe über Land tingelte.
Die Faszination des Unfertigen
Mankell redete und schrieb über Unrecht, aber er tat auch etwas dagegen. In Maputo faszinierte ihn das Unfertige, Formbare der nachkolonialen Gesellschaft, in der Kunst eine wichtige Rolle übernahm. Das Teatro Avenida hatte in Trümmern gelegen, als eine Gruppe schwarzer Schauspieler es übernahm, die Mutumbela Gogo Companie.
Israel war Mankells zweites Lebensthema. Er sagte, wie Israel sei er 1948 geboren. Er sagte auch, der Konflikt begleite ihn sein Leben lang, und der Gedanke, dass es nach seinem Tod dort genau so weitergehen werde, sei ihm unerträglich. Er reiste häufig nach Jerusalem und Tel Aviv, zum Literaturfest nach Hebron. Er fand, dass die Palästinenser das Recht auf einen eigenen Staat hätten, und deshalb schloss er sich der Gaza-Expedition an.
Öffentliches Engagement und Schreiben wechselten sich in seinem Leben ab. Auch als Kriminalschriftsteller war Mankell ein politischer Mensch, ein schwedischer 68er wie Stieg Larsson. Beiden genügte es nicht, tolle Geschichten mit wilden Wendungen zu schreiben. Es musste mehr sein als nur ein monströses Verbrechen, das ihr Held souverän anging. Sie wollten aufklären. Sie verstanden sich als politische Menschen und pressten Politisches in ihre Bücher.
Wer Larssons Millennium-Trilogie liest, soll wissen, dass Schweden ein schlimmes Land ist, in dem die Behörden und der Geheimdienst Verbrechen begehen. So demaskierte Larsson den Wohlfahrtsstaat von heute und die Neutralität von gestern. Wer Wallanders „Der Chinese“ liest, soll im Kopf behalten, wie viel Schreckliches den Zwangsarbeitern geschah, die aus China entführt wurden, damit sie die Eisenbahnschienen zum Pazifik verlegen. So entlarvte Mankell Amerika, die arrogante Weltmacht und Erfinderin des kalten Kapitalismus, der schon zu viel Leid über die Menschheit gebracht hat, wie er fand. Als 9/11 sich ereignete, sagte er, damit habe er schon lange gerechnet, der Gegensatz zwischen Arm und Reich werde immer schlimmer. Da war der linke Moralist zum Altlinken geworden, für den es nichts Neues unter der Sonne gab.
Mankell wie Larsson waren schreibende Aktivisten. Darin unterscheiden sie sich vom Erfolgreichsten der Branche, von John Grisham. Grisham schreibt Bücher, in denen er seine Geschichten wie Pfeile abschießt. Alles dreht sich um den Fall. Kein Blick anderswo hin. Keine Metaebene. Über Recht und Unrecht in Amerika habe ich bei Grisham mehr erfahren als aus irgendeinem anderen Buch. Übrigens ist Grisham ein Linker, aber nicht beim Schreiben.
Was ist besser? Ich mag beides, das Politische und den Verzicht darauf. Ich lese jeden Grisham. Ich lese Larsson, auch wenn ihn Lagercrantz weiterschreibt. Ich finde Mankell toll.
Was bleiben wird: Kurt Wallander
Ich vergesse schnell wieder Grishams Krimis, weil die Geschichten, so atemlos ich sie lese, austauschbar sind. Von Mankell und Larsson habe ich mehr. Was sie über ihr Land erzählen, bleibt haften, jedenfalls bei mir. Ob ich will oder nicht, es setzt sich ein Bild fest, das ich von Schweden habe. Das Mankell/Larsson-Bild.
Von Larsson bleibt Lisbeth Salander, von Mankell wird bleiben: Kurt Wallander. Ihm dichtet er an, was in ihm selbst schlummern mag, was er selbst durchgemacht hat. Mankells Eltern ließen sich früh scheiden, seine Mutter beging Suizid. Er ging nicht auf ihre Beerdigung.
Wallander erleidet seine Scheidung und wird nie wieder glücklich. Fortan führt er eine einsame Existenz. Seine Tochter ist ihm eher fremd, auch wenn sie bei ihm arbeitet. Phasenweise verfällt er dem Alkohol. Phasenweise hat er Gewichtsprobleme und bekommt Diabetes. Die Libido meldet sich immer mal, aber Wallander ist bindungsschwach, was sonst, und bleibt es. Die Fälle, die er lösen soll und die ihn umtreiben, füllen die leere Zeit aus, in der er lebt. Ein Mann, der zum Autisten wird.
Eigentlich finde ich es seltsam, dass ein Autor mit so einer melancholischen Figur so viel Schreibzeit verbringen will. Mankell hätte ihm einige überraschende Charakterzüge schenken können. Weniger Eindimensionalität täte dem Leser gut. So aber ist Wallander eine typisch skandinavische Romanfigur, freudlos und allein zusammengehalten durch die Mordfälle, die er lösen darf.
Bei dem Gespräch in Berlin vor fünf Jahren sah Mankell mit seiner weißen Mähne und dem weichen Gesicht, der Hemdkragen offen, wie der jüngere Johnny Cash aus. Er war freundlich und neugierig, zugänglich und mitteilsam. Wenig Wallander. Froh, zurück in der Zivilisation zu sein.
Ich glaube nicht, dass er sich auf dem Schiff wohlgefühlt hatte. Ohnehin wusste er wenig über die Organisatoren der Gaza-Aktion. Er war erst auf der letzten Etappe an Bord gegangen. Diesmal war er in eine politische Aktion hineingerutscht. Er war nicht der Herr des Verfahrens gewesen, wie sonst immer. Man brauchte ihn für die Konfrontation mit den Israelis, seinen Namen, seinen Ruhm, seine Donnerstimme. Ich glaube, er fühlte sich missbraucht.
Im Interview war er in seinem Element. Als Aufklärer. Als Interpret einer weltweit beachteten Aktion. In seiner Wut auf Israel. Über die Ungerechtigkeit der Welt.
Bald darauf pendelte er wieder zwischen Maputo und Stockholm, seinen beiden Welten. Bald darauf schickte er Kurt Wallander in Pension und in die Demenz. Bald darauf machte er öffentlich bekannt, dass er an Krebs litt: eine Geschwulst am Hals, die Metastase eines Lungentumors, entdeckt Anfang 2014. Er sagte, sein Freund Christoph Schlingensief, der andere europäische Intendant in Afrika, sei am gleichen Krebs gestorben.
Henning Mankell redete in versöhnlicher Lakonie über sein Leben, in dem ihm nichts verwehrt geblieben ist. Wir müssen alle sterben, aber vorher können wir leben, sagte er hübsch paradox. Selbstreflexion bis in den Tod: der letzte Triumph des Schreibers.