Zum Tode Kurt Masurs: Musik war sein Elixier
Es muss schwer für Kurt Masur gewesen sein, als er am 10.Oktober 2012 mit der Meldung an die Öffentlichkeit ging, dass er schon seit einigen Jahren an Parkinson leide. Ein Hüne von einem Mann, bekannt für seine Überzeugungskraft und Standfestigkeit, sowohl künstlerisch wie auch politisch, und nun leidend an einer Krankheit, die auf unbarmherzige Weise dem Körper langsam seine Energie entzieht.
Aber dann dirigierte er weiter, zwei Monate später einen fast vollständigen Beethoven-Zyklus in München, als Beweis für alle Skeptiker, die an seiner Schaffenskraft zweifelten, aber auch als Ermutigung für sich selbst. Denn die Musik hat ihn ein Leben lang vorangetrieben und inspiriert, hat – gerade Beethoven, den er als Revolutionär des Menschlichen in der Kunst verehrte – seinen persönlichen Humanismus genährt und ihn zu einer der integren, weltweit geschätzten Persönlichkeiten eines Geschäfts werden lassen, dessen Eitelkeiten er bereits als junger Mann hinter sich ließ.
Kurt Masur galt als bodenständiger Dirigent, er war keiner von denen, die ein Werk bis in die letzte Nische der Spiritualität durchforschen. Sondern einer, der an die Unmittelbarkeit der Kraft glaubte, die von einem Orchester ausgehen kann. Das Leben mit Musik war für ihn keine Selbstverständlichkeit, es war eine bewusste Entscheidung.
Ein Orchester statt Klavier
Kurt Masur wurde am 18. Juli 1927 im schlesischen Brieg geboren, einer Kleinstadt rund 50 km südöstlich von Breslau. Sein Vater war Elektroingenieur, führte ein Elektrofachgeschäft und sorgte dafür, dass auch sein Sohn die Lehre als Elektriker abschloss. Der Junge konnte zupacken, kletterte auf Masten, half aus im elterlichen Betrieb. Noch in späteren Jahren bezeichnete Kurt Masur sich als großen Bastler mit Hang zur praktischen Arbeit und pflegte Hobbys wie Segelfliegen, den sehr persönlichen Kampf des Menschen mit den Elementen.
Die Musik brachten die Mutter und die beiden größeren Schwestern in die Familie. Die Kinder sangen abends häufig Volkslieder zum Einschlafen, ein Klavier stand in der Wohnung. Eine der Schwestern bekam Unterricht und so begann auch Kurt Masur, sich für Musik zu interessieren. Mit zehn Jahren wurde er von einer Kirchenorganistin unterrichtet, war bald fasziniert von diesem gewaltigen Instrument und wollte nun Organist werden. Als sich jedoch herausstellte, dass sich sein rechter kleiner Finger nicht mehr strecken ließ, war diese Tür verschlossen. Dirigent könne er ja noch werden, meinte damals der Arzt zu ihm. Der schüchterne Junge dachte lange darüber nach – und entschloss sich schließlich, das Orchester als sein Instrument zu wählen.
Das bedeutete viel Arbeit an sich selbst. Masur schulte sich im Sprechen, arbeitete an seiner Präsenz, daran, die Scheu und ständigen Selbstzweifel zu überwinden, um eine Führungspersönlichkeit zu sein. Es wurde eine seiner Lebensaufgaben und machte Kurt Masur gerade deshalb am Pult so überzeugend. Als die New Yorker Philharmoniker, das traditionsreichste Orchester der USA, ihn 1991 zum Chefdirigenten beriefen, suchten sie eben jemanden wie ihn. Jemanden, der nach dem experimentellen Pierre Boulez und dem eleganten Zubin Mehta wieder die Power à la Leonard Bernstein in ihre Reihen brachte. Einen Maestro wie Kurt Masur, der nicht lange fackelte, sondern dirigierte.
Karriere in Ost und West
Bis er sich mit dieser Überzeugungskraft vor ein Weltklasseorchester stellen konnte, gingen allerdings mehrere Erfolge und Krisen ins Land. Masur studierte ab 1946 an der Leipziger Mendelssohn-Akademie Klavier, Komposition und Orchesterleitung, brach die Ausbildung zwei Jahre später ab, verdingte sich daraufhin als Solorepetitor und Kapellmeister am Landestheater in Halle an der Saale und schaffte es über die Stationen Erfurt und Leipzig 1955 als Dirigent an die Dresdener Philharmonie. Bis er 1970 als Gewandhauskapellmeister nach Leipzig geholt wurde, wechselte er noch mehrfach seine Stellen, arbeitete in Schwerin, dann von 1960 an vier Jahre lang an der Komischen Oper Berlin und nach einigen Durststrecken von 1967 an wieder in Dresden.
Vor allem aber begann Kurt Masur, auch im Ausland Erfolg zu haben. Der stattliche Maestro mit dem forschen, in der Musik gründenden Humanismus, der in Amerika der Statur nach zuweilen für einen Texaner gehalten wurde, entwickelte sich zum gern gesehen Export der DDR-Regierung, gastierte in West-Europa, Südamerika und erarbeitete sich damit auch jene Glaubwürdigkeit, die er in seiner sozialistischen Heimat brauchte. Der Dienstantritt am Gewandhaus etwa konnte auch als kulturpolitisches Signal gewertet werden. Zumal Masurs Vorgänger Václav Neumann 1968 demonstrativ seinen Taktstock niedergelegt hatte, als Protest gegen die Beteiligung der DDR-Truppen an der Niederschlagung des Prager Frühlings in seiner Heimat.
Masur kämpfte, erarbeitete sich seinen Ruf, trotzte Krisen wie dem schweren Autounfall 1972, bei dem neben seiner zweiten Frau Irmgard Elsa Kaul auch zwei Trabi-Fahrer starben, die er mit seinem Mercedes auf der Transitautobahn gerammt hatte. Er stürzte sich in die Arbeit, spielte mit dem Gewandhausorchester bis Ende 1996 über 900 Konzerte allein auf Tourneen. Es störte ihn zu DDR-Zeiten wenig, dass die inhaltlichen Vorstellungen der Parteikader vor allem in der Pflege der musikalischen Orchestertradition bestanden. Das überschnitt sich mit seiner eigenen Idee ernsthafter, präziser Interpretationsarbeit. Er schuf sich Freiräume für gewagtere Programme im eigenen Land. In Leipzig selbst wiederum trieb Kurt Masur den Neubau des 3. Gewandhauses voran, dessen Vorgängerbau im Bombenhagel 1943 zerstört worden war. Vom 8. November 1981 an musste sein Orchester nicht mehr in der Kongresshalle am Leipziger Zoo konzertieren, sondern hatte einen eigenen Saal gegenüber dem Opernhaus.
Spätestens von diesem Moment an war Kurt Masur nicht mehr nur ein Dirigent, dessen umfangreiche Konzert- und Aufnahmetätigkeit schnell karajansche Dimensionen annahm. Er war eine Autorität, deren Wort in der Öffentlichkeit Gewicht hatte. Deshalb war es von großer Bedeutung, dass er 1989 im Zeichen des Wandels den Saal für die „Gewandhausgespräche“ öffnete, wo über Fragen der Demokratie und der Zukunft der DDR diskutiert wurde.
Sofern historische Musik überhaupt politisch werden kann, wurde sie es in diesen Tagen in seinen Konzerten. Als sich die Situation um den 9. Oktober 1989 zuspitzte, war es wiederum Kurt Masur, der gemeinsam mit fünf weiteren prominenten Leipzigern den Aufruf „Keine Gewalt!“ verfasste und damit die Stimmung der Montagsdemonstranten mit Blick auf eine friedliche Entwicklung beeinflusste. Am selben Abend noch dirigierte er im Gewandhaus ein Konzert – unendlich nervös, wie er später erzählte. Aber die Menschen blieben besonnen. Einige wollten ihn in den darauffolgenden Wochen sogar zum Staatspräsidenten der DDR ernennen. Womöglich wäre es keine schlechte Wahl gewesen.
Und immer: die Kunst
Durch diese sehr spezielle Künstlerbiografie wurde Kurt Masur einer der wenigen deutschen Intellektuellen, der ohne Gesichtsverlust vom Osten wie dem Westen für seine Verdienste geehrt wurde, angefangen bei mehreren Nationalpreisen der DDR und der Johannes-R.-Becher-Medaille bis hin zum Großen Verdienstkreuz (mit Stern und Schulterband) im vereinten Deutschland, von zahlreichen Ehrendoktorwürden von Leipzig über Yale bis zum Royal College of Music ganz abgesehen.
Letztlich aber waren solche Auszeichnungen für ihn nur Beiwerk und Bestätigungen, dass er seine Kunst verantwortungsvoll zu den Menschen gebracht hat. Vor allem die späten Jahre nach der Maueröffnung, die Kurt Masur an der Spitze von Institutionen wie dem New York Philharmonic Orchestra, dem London Philharmonic Orchestra und dem Orchestra National de France verbrachte – und die seine Leidenschaft für Reisen unterstützten – , nutzte er nicht nur für Konzerte, sondern für zahlreiche Workshops und Meisterklassen etwa an der renommierten Julliard School in New York, in São Paulo oder Buenos Aires oder auch in Deutschland, um seine Begeisterung an die nächsten Generationen weiterzugeben.
Denn im Kern ging es immer um die Kunst. Um Beethoven beispielsweise, dessen Sinfonien er häufig dirigierte, an Silvester 1978 ebenso wie zur Eröffnung des neuen Gewandhauses, zur Maueröffnung 1989 ebenso wie zur Begrüßung des neuen Jahrhunderts in New York. Es ging um die großen Klassiker von Bach bis Britten mit einem klaren Fokus auf der Orchesterliteratur des 19. Jahrhunderts, aber auch um neue Musiken von Hans Werner Henze über Sofia Gubaidulina bis Friedrich Schenker und Gija Kancheli, die ein Potenzial des Entdeckens in sich trugen und die Kurt Masur nicht selten uraufführte.
Musik war für ihn Elixier, ein Quell der Freude, mitunter der Hoffnung. Unvergessen etwa blieb vielen New Yorkern sein Gedenkkonzert wenige Tage nach dem 11.September 2001, als er Brahms „Requiem“ ins Programm nahm, als bewegenden Moment des Trosts. Gewagt waren seine Aufführungen aller, auch der in Ungnade gefallenen Sinfonien von Dimitri Schostakowitsch, in der DDR Mitte der siebziger Jahre ein klares Zeichen für die Unabhängigkeit der Kunst.
Kurt Masur überzeugte seine Kritiker im Laufe seines Lebens als Persönlichkeit durch Haltung, die über die Musik hinausreichte, und als Dirigent durch eine immer feiner ausdifferenzierte Pragmatik der Interpretation, die die Orchestersprache verständlich, greifbar machte. Damit war er ein Maestro auf Augenhöhe, der Menschen zutiefst bewegen konnte.
Kurt Masur starb am Samstag. Er wurde 88 Jahre alt.