Was kommt an der Volksbühne nach Castorf? Der designierte Intendant Chris Dercon und seine Programmleiterin Marietta Piekenbrock sprechen zum ersten Mal über ihre konkreten Pläne – auch für den neuen Spielort Tempelhof.
VON RÜDIGER SCHAPER
Dienstagmorgen in Mitte. Kalt und neblig. Chris Dercon sitzt schon am großen Arbeitstisch, er ist Frühausteher. Dercon und seine Programmleiterin Marietta Piekenbrock sprechen hier erstmals über ihren Spielplan für das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz und die geplante neue Spielstätte auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof. In der Flüchtlingsunterkunft dort gab es eine Razzia der Polizei. Es fällt schwer, über Kunst zu reden am Tag nach dem Terror am Breitscheidplatz.´
Herr Dercon, seit anderthalb Jahren gibt es eine heftige Debatte um die Zukunft der Volksbühne und Ihre Person. Frank Castorf und seine Kollegen feiern Abschiedsinszenierungen, der neue Kultursenator Klaus Lederer zweifelt immer noch an Ihrer Eignung. Wie finden Sie wieder zur Kunst, wie kommen Sie heraus aus dem kulturpolitischen Kampf?
CHRIS DERCON: Die beste Kunst kommt aus unerwarteten Bedingungen und Situationen. Ich war immer von der Chaostheorie fasziniert. Das ist Mathematik, und dabei geht es um Veränderung. Ich glaube, dass aus Konflikten und paradoxen Konstellationen die besten Dinge hervorgehen. Deswegen habe ich nie den Mut verloren. Ich bin überzeugt, dass hier etwas Neues entstehen kann.
Die Frage war ja nicht, ob Sie den Mut verlieren auf dem harten Berliner Boden, sondern wie Sie in und mit der Volksbühne Ihre künstlerischen Vorstellungen realisieren wollen. Was läuft zur Eröffnung im September?
MARIETTA PIEKENBROCK: Uns erwartet ein Stadttheater ohne Grenzen. Wir starten in Tempelhof und bewegen uns gleichsam in Guerrilla-Performances über mehrere Orte in Neukölln und Kreuzberg auf den Rosa-Luxemburg-Platz zu, wo dann die Spielzeit im Oktober beginnt. Der Choreograf Boris Charmatz lädt Berlin ein zu einer Versammlung mit Tänzern über zwei Wochen, bei Tag und bei Nacht. Das beginnt mit einem großen Fest am 10. September. Danach zeigt er die Uraufführung seines lange erwarteten neuen Stücks, ein Bild aus 10 000 choreografierten Pixeln. In dieser Zeit der Terroranschläge, in Berlin, in Paris, in Brüssel, in Ankara sehen wir versehrte Körper. Wir sehen geflüchtete Menschen, Kriegsopfer in Aleppo. Der Tanz bringt uns diese sozialen Konflikte nahe, indem er die prekären Zustände des Körpers ausstellt. Als Zuschauer bleiben Sie dort so lange, wie Sie wollen. Sie können kommen und gehen, die Nacht in Tempelhof verbringen.
DERCON: Wie bewegen sich unsere Körper in der Stadt, zwischen Hochhäusern, auf einem Flughafen, in der Menge – damit beschäftigt sich Boris Charmatz. Dabei geht es um biopolitische Aussagen, um das Wechselspiel des einzelnen Menschen mit der Architektur in dem riesigen, leeren Hangar von Tempelhof. In der Tate Modern hatten wir drei Tage mit Charmatz, da kamen 50 000 Leute, da wurde über Tanz und Tanztheorie und Theater diskutiert.
Und was passiert in dem Amphitheater, das der Architekt Francis Kéré für die Volksbühne in Tempelhof entworfen hat?
PIEKENBROCK: Wir müssen sehen, wie sich das finanzieren lässt. Aber wir wollen das Theater von Kéré mit einem neuen Stück von Mohammed al Attar aus Damaskus eröffnen, einer Überschreibung der „Iphigenie in Aulis“ von Euripides, mit vierzig syrischen Frauen.
Das klingt nach einer programmatischen Setzung.
PIEKENBROCK: Wir werden eine Vielzahl von Projekten mit Künstlern aus Europa, den USA, dem Nahen Osten machen, die ihren Lebens- und Arbeitsschwerpunkt nach Berlin verlegt haben. Wir reden immer nur von politischen Flüchtlingen, aber es sind so viele Künstler aus unterschiedlichsten Gründen nach Berlin gekommen, die der Stadt neue Perspektiven bieten.
DERCON: Reden wir doch einfach von Einwanderern! Die Volksbühne wird diesen Theaterleuten, Musikern, Schriftstellern künftig eine Plattform bieten.
Was Sie vorhaben, erinnert an das Maxim Gorki Theater und seine Berliner Internationalität. Das zeigt die Veränderungen in der Stadt. Davor fürchten sich aber auch viele Menschen, die lieber das Alte wollen.
DERCON: Es gibt eine große Menge von Neu-Berlinern, da liegen ungeheure Möglichkeiten und Chancen. Berlin kann da ein Profil bekommen, das Städte wie Brüssel oder Paris nicht oder nicht mehr haben. Die Diversität der Stadt in unserem Programm zu spiegeln, das ist für uns eine Kernaussage.
Sie haben ja lange gezögert, etwas von Ihren Plänen zu verraten. Was passiert ab Oktober im großen Haus der Volksbühne?
PIEKENBROCK: Wir beschäftigen uns mit frühen Stücken von Samuel Beckett, um zur Quintessenz des Theaters zurückzukommen: die Sprache und das Sprechen. Becketts „Not I“ ist einer der radikalsten Sprechtheaterentwürfe überhaupt. Der erste Satz lautet: „Alles muss raus in dieser gottlosen Welt …“. Beckett hat sich stark mit Bildender Kunst beschäftigt, in diesem Fall mit Caravaggio und seiner „Enthauptung Johannes des Täufers“. Die Hauptfigur von Susanne Kennedys neuem Stück hat ein fernes Echo zu John Cassevetes’ Film „Opening Night“. Im Zentrum steht eine Schauspielerin, die durch ein traumatisches Erlebnis die Kontrolle über ihren Alltag verliert, der ihr plötzlich als eine Abfolge von Filmbildern erscheint.
Die Volksbühne ist ein wunderbarer, großer, schwieriger Raum. Sie hingegen beschreiben eher kleinere Formen. Wie passt das zusammen?
PIEKENBROCK: Wir haben Künstler ausgesucht, die wir gut kennen. Ihnen trauen wir zu, in Tempelhof und am Rosa-Luxemburg-Platz in neue Dimensionen vorzustoßen. Außerdem habe ich aus der Jahrhunderthalle in Bochum viel Erfahrung mit ungewewöhnlichen Theaterräumen. Das Gleiche gilt für Chris Dercon mit der Turbinenhalle in der Tate Modern.
DERCON: Es geht nicht um Größe, sondern um Maßstab und Konzentration. Die Volksbühne stellt eine großartige Herausforderung dar, die Bühne selbst mit dem großen Bogen hinten ist wie eine Skulptur. Theater ist auch eine Form von Architektur, wenn Sie die Entwicklung des Theaters von der Antike über den Barock bis heute betrachten. Die Sicht auf die Bühne ist hier fantastisch, intim und zugleich groß ist dieser Raum, wie Sie es bei Stücken von René Pollesch zum Beispiel sehen, wenn nur ein Schauspieler auf der Bühne ist.
PIEKENBROCK: Mette Ingvartsen ist ja auch eine Choreografin, die konkret auf Räume reagiert. Wir laden Künstler aus und nach Berlin, um ihre Arbeiten in der Volksbühne zu entwickeln und zu verankern.
Was ist mit Regisseuren, die vor allem Theatererfahrung haben? Engagieren Sie die nicht?
DERCON: Ja, natürlich, da gibt es Johan Simons und Claude Régy. Wir wollen neben dem Sprechtheater aber auch neue Ehen stiften und Filmregisseure an die Volksbühne holen, wie den katalanischen Theater- und Filmregisseur Albert Serra. Apichatpong Weerasethakul aus Thailand wird seine Arbeit „Fever Room“ auf die Räume der Volksbühne zuschneiden. Es ist wichtig, dass es bei uns viele Regisseurinnen und Choreografinnen gibt. Theater als maskuline Veranstaltung ist Quatsch. Schade, dass man immer diese Männergeschichten auf der Bühne sieht, mit kreischenden Frauen.
Sie beschreiben eine Inszenierung von Frank Castorf.
DERCON: Wirklich? Es ist einfach nicht realistisch, nicht mit Künstlerinnen und ihren Geschichten zu arbeiten.
Sie haben angekündigt, ein Ensemble aufzubauen. Wie wird das aussehen?
PIEKENBROCK: Castorf hat etwas Einzigartiges entwickelt, worauf wir aufbauen können. Er hat einen reformierten Ensemblebegriff geschaffen. Es gibt eine gebundene Struktur, und die Regisseure, ob Christoph Marthaler oder Herbert Fritsch, sind in der Lage, sich dazu jeweils ein eigenes kleines Ensemble zusammenzustellen. Das ist keine ökonomische, vielmehr eine idealistische Version von Ensemble.
Das haben Sie jetzt wirklich schön gesagt.
DERCON: Deswegen ist es Unsinn zu sagen, wir zerstörten das Ensemble der Volksbühne. Nein, wir setzen das Prinzip Castorf fort.
Aber Sie übernehmen ein Haus ohne Repertoire, Sie können keine Stücke aus der Castorf-Zeit weiter spielen.
PIEKENBROCK: Einer der Schlüsselbegriffe unseres Programms ist das Repertoire. Ähnlich selbstverständlich wie es in einer Kunstsammlung Räume für die Klassische Moderne gibt, zeigt die Volksbühne in Zukunft Modellinszenierungen, Re-Lektüren legendärer Avantgarde-Stücke der Theater-, Tanz- und Musikgeschichte, so weit das mit Zeitzeugen, Dokumenten und Arciven möglich ist. Über die Idee dieses radical repertory antworten wir auf den Kult um das ständig Neue in der Kunst. Wir sind gegen diese konsumistische Haltung.
Wie laufen die Vorbereitungen? Anfangs hieß es ja, Sie dürften das Haus gar nicht betreten. Kommen Sie gut mit den Leuten an der Volksbühne zurecht?
DERCON: Es gibt viele, die mit uns arbeiten wollen, die uns all das möglich machen, worüber wir hier reden. Wir treffen uns regelmäßig mit dem neuen Personalrat. Es gibt schwierige Momente, klar. Unsere Kontrakte beginnen am 1. August, nach den Theaterferien, am 24. August, können wir ins Haus.
Das ist sehr spät für einen kompletten Neuanfang. Müssten Sie nicht viel früher dort anfangen können?
PIEKENBROCK: Es wird uns nicht leicht gemacht, aber wir haben zum Glück ja Tempelhof.
Haben Sie jetzt endlich mit Kultursenator Klaus Lederer gesprochen?
DERCON: Wir sind demnächst verabredet, aber ein Gespräch wird nicht reichen. Wir brauchen sicher mehrere.
Hatten Sie mit dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller Kontakt – der hat Sie immerhin engagiert und ist immer noch der Chef im Senat?
DERCON: Ich habe ihn angerufen, als Herr Lederer diese Sachen über mich und die Volksbühne gesagt hat. Ich glaube, Herr Lederer war sich nicht bewusst, was er damit an Spekulationen auslöst. Ich fand es auch merkwürdig, in einigen Medien immer wieder zu lesen, dass wir kein Konzept hätten. Wie wollen Sie denn unter Aufsicht der Öffentlichkeit ein Programm entwickeln?
Willkommen in Berlin!
DERCON: Ich habe so etwas noch nie erlebt. Aber das macht auch den Charme von Berlin aus.