Mit fast 90 Jahren hat Martin Walser ein neues Buch geschrieben. „Statt etwas oder Der letzte Rank“ handelt von persönlichen Verletzungen und sexuellen Andeutungen. Kurz: kokett-narzisstische Walser-Prosa.
Von Stephan Lohr (Spiegel Online)
„Statt etwas oder Der letzte Rank“ ist Martin Walsers jüngstes Buch betitelt – und statt einer Widmung erfahren wir vor Beginn des Textes, dass „Rank“ laut Grimmschem Wörterbuch schweizerischen Ursprungs sei, „Wendung, Krümmung des Weges“ bedeute, indes auch „die Wendung, die der Verfolgte nimmt, um dem Verfolger zu entgehen“.
Es folgen 52 lediglich mit Ziffern überschriebene Kapitel, manche sind nur zwei Zeilen lang, wie etwa das 39.: „Fühl dich so unwichtig, wie du bist. Wenn dir das gelingt, darfst du bersten vor Stolz“. Oder das 41.: „Ich kenne keinen, den ich, wenn ich ihm sagte, es geht mir gut, nicht gegen mich einnähme“. Kokett-narzisstische Walser-Prosa.
Es „ist ein Roman, in dem es in jedem Satz ums Ganze geht“, tönt vollmundig die Verlagswerbung. Ein Roman? Die knapp 170 Seiten erzählen keine Handlung, es passiert schlicht nichts, allein ein dem Autor mindestens nahestehender Erzähler räsoniert monologisierend.
Es gehe ihm gut, erfahren wir, „ein bisschen zu gut“. Er interessiere sich nicht mehr für Theorien. Der Ich-Erzähler grummelt aus dem selbst gewählten Abseits – fast böte sich „Das Abseits als sicherer Ort“ als Titel an, doch so heißen schon die 1980 erschienenen Erinnerungen des linken Psychologen Peter Brückner, der darin sein Leben als Sonderling jüdischer Abstammung zwischen 1933 und 1945 beschreibt. Walsers erzählendes Ich indes ist nicht bedroht, die Rede ist bloß – sehr im Ungefähren gehalten – von erlittenen Polemiken und bitteren Kritiken.
Wohlgefühl bereiten ihm dagegen Andeutungen sexueller Wonne. Konventionen überschreitet der Erzähler dabei hemmungslos und formuliert schmachtend: „Magdalenas Ausschnitt ließ den scharfen Schatten zwischen ihren Brüsten sehen. Alexandras Körper drängte überall gegen ihren Kleidungsglanz“. Oder: „… das Sich-Beherrschen ist immer eine Fälschung der Gefühle“. Schließlich, altmännergeil: “ …die hatte wirklich zu große Brüste, die kein bisschen zu groß waren. Bei diesen Brüsten bleiben. Um Asyl bitten“.
Martin Walser hat aus seiner Zuneigung für viele Frauen kaum je einen Hehl gemacht, nun aber sind zwei seiner Musen zu Mitarbeiterinnen seines Werks geworden. Der 48-jährigen Thekla Chabbi dankt er in seinem vor einem Jahr erschienenen Roman „Ein sterbender Mann“ durch eine vorangestellte Widmung: „Ohne ihre schöpferische Mitwirkung wäre der Roman nicht, was er ist“. Chabbi ist bei Lesungen mit Walser gemeinsam aufgetreten, allein, als Co-Autorin mag er sie nicht nennen. Aber sie zeichnet als Herausgeberin des zum 90. Geburtstag Walsers im März erscheinenden Bandes mit Aufsätzen und Reden unter dem Titel „Ewig aktuell“.
Über die die Enttäuschungen und Entzauberungen ihrer „Wege mit Martin Walser“ hat Susanne Klingenstein auf fast 400 Seiten Auskunft gegeben. (Weissbooks-Verlag, Frankfurt 2016). Die in Boston lebende und lehrende Literaturwissenschaftlerin hatte Walsers emphatisches Interesse für den jiddischen Autor Sholem Yankev Abramovitsh geweckt. Er hat aus ihren jahrelangen Forschungsarbeiten flugs den Essay „Shmekendike Blumen“ oszilliert, dessen Charme kaum Platz ließ für Klingensteins wissenschaftliches Buch. Gleichwohl erlebte man auch diese beiden auf einer gemeinsamen Lesereise.
Walser feiert sich im „Paradies der Qual“
Der streitbare Walser inszeniert seinen Erzähler als den Verwundbaren und Traumatisierten. Er erinnert an Ernst Bloch, den „dröhnenden Franziskaner“ im Vergleich zum „fein zugreifenden Benediktiner Adorno“, schildert kaum verklausuliert moralische Opportunismen etwa aus der Familie eines Bundespräsidenten, dessen Vater dem Nationalsozialismus als Staatssekretär rühmlich gedient habe, Weizsäcker also. Ungenannt bleiben auch der Kritiker Marcel Reich-Ranicki, mit dem Walser ja einige heftige Gefechte durchgestanden hat, oder der „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher, der dem Autor bei der Verleihung des Friedenspreises in der Paulskirche 1998 die Laudatio hielt, um ihm später den Vorabdruck seines Romans „Tod eines Kritikers“ zu verweigern, weil der antisemitisch geraten sei.
Gleichwohl tauchen sie auf, werden be- und umschrieben als Gegner und Feinde, mit denen er längst ein Team bilde, das sich gegenseitig und öffentlichkeitswirksam aufgeschaukelt habe. Beklemmend gerät das Buch nur da, wo der Erzähler davon berichtet, wie er immer kleiner wird, die Füße des Sitzenden nicht mehr den Boden erreichen. Ein kafkaeskes Bild. Oder wo er von dem Tischlermeister Nikolaus Riederle schreibt: „Er starb an Zungenkrebs, weil er mit dieser Zunge immer nur die Wahrheit sagte.“
Der Erfahrungen und, mehr noch, Empfindungen resümierende Erzähler mag sich nicht mehr dazu verhalten, das Kartell der Rechthaberei könne ihm nichts mehr anhaben, zumal er nun nur noch alle „umarmen, streicheln, küssen“ will. Walser feiert sich im „Paradies der Qual“, grantelnd, raunend, manchmal leicht ironisch. Allemal schwer erträglich.
Vielleicht, es wäre ihm zu wünschen, gelingt ihm ja noch ein allerletzter Rank, ein Hakenschlag zurück in die erzählende Literatur, etwa eine meisterliche Novelle. Sonst wäre es ein trauriger Abschied.