Martin Walsers neuer Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“ lässt einen Verdammten und Umarmten umarmen und verdammen. Eine nacherzählbare äußere Handlung besitzt dieses Werk nicht.
Wahrscheinlich hat jeder von uns seine eigene Vorstellung von der Hölle, die ihn erwartet, und wahrscheinlich haben die meisten dieser Orte viel weniger mit brodelnden Kesseln und spitzen Heugabeln zu tun als mit unserer Alltagswelt, die dann aber in einem entscheidenden Punkt verfremdet wird. Die Pforten seiner Hölle öffnen sich für den Ich-Erzähler in Martin Walsers heute erscheinendem Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“ mit der Schiebetür zu einem Großraumwagen. Der ist voll besetzt, auch sein reservierter Platz mit der Nummer 41, doch dessen Okkupant ist eigentlich längst tot – der Mann hatte, erinnert sich der Zugestiegene, „vor ein paar Jahren gegen mich agiert. Und war kurz darauf gestorben. Ich musste mich damals richtig zusammenreißen, um diese Todesnachricht nicht mit Wohlgefallen zur Kenntnis zu nehmen.“
Leider sind auch die anderen Plätze im Wagen belegt, allesamt von Toten, an die sich der Reisende noch erinnert, weil sie einst in ganz unterschiedlichen Funktionen „gegen mich gewirkt“ hatten. Nun also erheben die Toten ihre Stimmen, ein grausiger Chor der Anklage gegen den Zugestiegenen, sie wiederholen ihre früheren Verdammungen, „und ich musste alles, was je gegen mich gesagt oder geschrieben wurde, in endloser Wiederholung anhören“.
Ist das Ich immer dasselbe?
Feinde also, nichts als Feinde, und was in diesem Kapitel in verdichteter Form geboten wird, prägt auch weite Teile des übrigen Buchs. Eine nacherzählbare äußere Handlung besitzt dieses als Roman bezeichnete Werk ebenso wenig wie der Ich-Erzähler einen Namen, der über mehrere Abschnitte hinweg Gültigkeit hätte – unklar ist zudem, ob das Ich in diesen 52 kurzen Abschnitten überhaupt immer dasselbe ist, vom Er oder vom Du ganz zu schweigen, die wiederum mit dem Ich verbunden scheinen: „Geständnishaftes gehört in die dritte Person“, heißt es einmal, was aber nicht bedeutet, dass neben dem Er nicht auch jenes Ich gesteht, zugibt oder zu Anschuldigungen der Feinde eifrig nickt, was dann wieder zu neuen Anschuldigungen führt. So geht das über 170 Buchseiten der permanenten Welt- und Selbstergründung. Feinde sind dauerpräsent, Freunde aber sind in diesem Raum nicht vorgesehen, und wenn, dann entpuppen sie sich gern als falsche: „Ich kenne keinen, den ich, wenn ich ihm sagte, es geht mir gut, nicht gegen mich einnähme“, weiß das Ich. Die Gegner aber haben eigentlich nichts gegen ihn als Person, greifen ihn aber an, um ihre Macht auszuüben oder das Selbstbewusstsein zu stärken.Das gelingt, weil der öffentlich präsente Erzähler – er schreibt Bücher und kuratiert eine Ausstellung, erfahren wir – ein lohnendes Ziel abgibt. Eine der eingestreuten Anekdoten beschreibt etwa, wie eine banale Äußerung über Adorno auf einer Diskussionsveranstaltung zum Ausgangspunkt einer medialen Kampagne gegen ihn wird. Das hat geradezu physische Folgen, für ihn wie für den attackierenden Journalisten: Der nämlich brüstet sich, plötzlich um einige Zentimeter gewachsen zu sein, während sein Opfer schrumpfte und erst dann wieder wachsen kann, als es nach Amerika flieht, weit weg von den Feinden.
Ein von aller Welt verfolgter Erzähler, der um sich selbst kreist
So schlicht, so bildhaft geht es hier zu. Wenn aber alles, was dem Erzähler an, wie er sagt, Niederlagen widerfährt, als bloße Folge von ungünstigen Kräfteverhältnissen gedeutet wird und per se „nichts mit Recht und Unrecht“ zu tun hat, dann ist auch nirgendwo Raum für die Einsicht, es könne in einer publizistischen Auseinandersetzung vielleicht doch um Sach- statt um Machtfragen gehen, um den Austausch von Argumenten statt um Vernichtungswillen, um die ernsthafte Beschäftigung mit einem Werk statt um das Aufbauschen der eigenen Person auf Kosten ebendieses Werks und dessen Urhebers, kurz: um alles, wofür Kulturjournalismus steht.
Aber Walser zeigt eben auch, dass sein von aller Welt verfolgter Erzähler dazu nicht in der Lage ist, aus Gründen, die in dessen Person wurzeln: „Dass alles, was ich tat und dachte, einer Beobachtung, sprich Beurteilung ausgesetzt ist, spürte ich bei allem, was ich tat und dachte. Ich kriegte dadurch mit, dass ich so gut wie alles, was ich tat und dachte, nicht hätte tun und denken dürfen.“
Es sind dann eben nicht nur die Fremden, die Feinde und Gegner, die ihn in die Mangel nehmen, auch der Indoktrinierte selbst sieht sich mit argwöhnischen Augen und ist, in einem weiteren Schritt, auch diesen Augen gegenüber neuerlich argwöhnisch, sie könnten etwa zu viel Milde walten lassen: „Man bremst sich andauernd im Vorgehen gegen sich selbst, man stellt das Verfahren ein, weil man fürchtet, es könnte zu weit gehen.“
Wortreich werden Konsequenzen verschwiegen
Wo das vermutete Denkverbot bereits verinnerlicht ist, da lässt sich schwer diskutieren. Und immer wenn man fragen möchte, wer derlei ausspricht oder es ungesagt verhängt, bleibt Walsers Erzähler die Antwort schuldig. Er spricht wortreich über sein Verstummen in der Öffentlichkeit und wettert über die „alles vernichtende Moral“, die unbequemerweise nur eine Version von mehreren konkurrierenden „als Wahrheit gelten lässt“, schweigt sich aber über deren Mechanismen und Wirkungsweisen aus. Am schlimmsten aber ist ihm die Forderung nach Konsequenz: „Ich scheute dann vor jeder länger gültig sein wollenden Aussage zurück. Das hätte doch schon wieder geheißen, ich müsste mich nach dem Augenblick, in dem ich das und das gesagt habe, immer noch richten, auch wenn inzwischen längst andere Empfindungen in mir die Herrschaft hatten.“
Das alles ist nicht frei von Larmoyanz. Eine fortlaufende Diskussion ist da kaum möglich. Und es scheint, als komme es dem Erzähler, der auch sonst einen staunenswerten Grad an Egozentrik beweist, dabei auf Verbindlichkeit gar nicht an. Dass jemand in seiner Rede eine „verlässliche Kontinuität“ beweisen soll, ist ihm nichts als eine Konvention, die er nunmehr aufkündige, sagt er.
Anstelle des Austauschs eine Umarmung aller
Es bleibt dem Leser überlassen, der Figur auf ihrem Weg ins Selbstgespräch zu folgen und einer Sprache zu lauschen, die nicht mehr auf Verständigung mit dem Gegenüber zielt, oder seinerseits den Kontrakt mit dem Buch zu kündigen. Der Erzähler aber scheint an die Stelle des verbalen Austauschs mit den vielen Feinden, die ihm mit ihrer Sprachmacht nur immer neue Niederlagen beibringen, einen anderen setzen zu wollen. Darauf jedenfalls steuert der Roman überraschenderweise zu: „Umarmen, streicheln, küssen“ möchte dieses Ich nun im letzten Kapitel des Buchs „aber alle. Alle Fallensteller, Untersteller, Verdächtiger. Mir ist zum Umarmen keiner zu schrecklich.“ Hoffentlich ist das umgekehrt genauso.