Mann und Frau sind immer schon ein mythisches Paar: In seinem jüngsten Buch „Oniritti – Höhlenbilder“ zeigt Botho Strauß die ganze abgedrehte Brillanz seiner großen Kunst.
Das neue Buch von Botho Strauß heißt Oniritti – Höhlenbilder. Der Titel hat etwas Schroffes und Abweisendes, den Grundsatz moderner Museumspädagogik, Schwellenängste abzubauen, hat sich der Autor nicht auf die Fahnen geschrieben. Aber man kann es ja auch so drehen: Wer sich von diesem Titel nicht entmutigen lässt, der bringt jedenfalls die Entschlossenheit mit, die es für die Lektüre dieses unendlich reichen, aber hermetischen Buchs braucht. Denn es ist ein Buch mit sieben Siegeln, doch mit jedem Siegel, das man bricht, fühlt man sich ihm mehr verschworen.
Das griechische Wort oneiros meint Traumgesicht. Botho Strauß hat es, wie er in einer Vorbemerkung mitteilt, mit dem Wort Graffitiverschränkt. Oniritti seien demnach „Bildschriften auf der Höhlenwand der Nacht“.
Diese Definition beschreibt die Prosaminiaturen erstaunlich genau: Die Texte sind wie Bilder komponiert. Wie die Malerei, die keine Zeitachse kennt, in der Pose eines Augenblicks die ganze Entstehungsgeschichte mit aufscheinen lassen muss, so schafft Strauß Figurenkonstellationen wie lebende Bilder, in denen im Blick zweier Menschen ihre ganze gemeinsame Geschichte aufblitzt: alle Hoffnungen und Enttäuschungen, alle Begierden und Ermattungen.
Diese Bildschriften, in denen sich die diffuse Wirklichkeit verdichtet, sind überprägnant, hyperrealistisch, wie es nur Traumgesichte sein können. Sie scheinen wie auf Höhlenwände projiziert, weil nicht nur jeder in seinem eigenen Saft schmort, sondern auch in seiner eigenen Höhle hockt. Zu nächtlicher Stunde, wenn sich die Einbildungskraft vom Realitätsprinzip löst, funkt der Traum Signale aus anderen Welten in die Höhle unseres Bewusstseins.
Das Buch setzt sich zusammen aus kurzen Abschnitten, meist sind es knappe Szenen, in denen mehrere Figuren aufeinander reagieren wie bei einem chemischen Experiment, mal sind es philosophische Überlegungen, mal ist es auch nur ein Satz, der einen ganzen Liebesroman ersetzt: „Sie sagte sehr leise: ‚Wie könnte ich teilen deine Verzweiflung? Du kennst nicht das Glück, dich zu sehen.'“
Die Poetologie der Höhle ist vielfältig. Es gibt die Höhle, in die sich der Eremit zurückzieht, um sich von der Welt nicht ablenken zu lassen. Die Höhle des eigenen Bewusstseins, in die jeder verbannt ist. Die Bergwerkbohrung ins Erdinnere, um etwas von der paläontologischen Vorgeschichte unseres Lebens freizulegen. Die Katakomben, in die man vor Verfolgung flüchtet. Die Schwermutshöhle des Kulturpessimisten. Die geschlossenen digitalen Welten, die es auf eine 360-Grad-Beschallung ihrer User abgesehen haben. Aber auch das Paar, Botho Strauß’ ewiges großes Thema, kann sich in seine Zweisamkeit wie in einer Höhle verschließen. Von all diesen Höhlenformen berichtet dieses Buch. (Für den Blasen-Theoretiker Peter Sloterdijk müsste es eine anregende Lektüre sein.)
Die Straußschen Figuren, die grell ausgeleuchtet vor dem Auge des Lesers stehen wie eine Partygesellschaft zu nächtlicher Stunde, die von einem Blitz erhellt wird, sind immer zwischen Anziehung und Abstoßung hin- und hergerissen: Eremiten und Gesellschaftsjunkies zugleich, sehnen sie sich nach Einsamkeit und können ohne den anderen doch nicht leben, sie hoffen auf ein Wort des anderen und ertragen doch das ganze Gerede nicht mehr. Wie der Mann, der nur noch mit einem kleinen Felsen als Partnerersatz ausgeht, weil der Fels und die „strenge Linienführung seines Schweigens“ nicht zu tausend Verkennungen Anlass geben wie die Worte eines Menschen.
Die Verachtung des Kulturkritikers fürs Gerede flackert da auf, aber das Großartige an diesem Buch ist doch seine durch und durch erzählerische Gestaltung: Es gibt keine Meinung, weil jeder Standpunkt ins Szenische eingebettet ist, das schon im nächsten Moment die Kehrseite des Sprechers offenbart.
Er dreht das gewohnte Verhältnis von Traum und Wachen um
So parodiert Strauß Weltekel und Suche nach einem tieferen Sein sogleich in einer anderen genialen Szene, die „von einigen angewidert Lebenden“ berichtet, die „nach Formen fern vom ‚billigen Dasein'“ suchen. Angeführt werden sie von einer Frau, die die Gruppe zusammenhält, indem sie mit großer Beredsamkeit Schmähungen und Schimpfwörter gegen die „billig Lebenden“ münzt. Weil das Teure und Wertvolle des Lebens einstweilen noch nicht benannt werden kann, bleibt nur das zungenfertige Beschimpfen des Billigen übrig – was aber selber eine billige Form der Gemeinschaftsbildung ist.
Die Höhle ist auch eine Metapher, und am berühmtesten als solche in Platons Höhlengleichnis. Für den griechischen Philosophen sitzen die Menschen in einer dunklen Höhle mit dem Rücken zum Ausgang. Alles, was sie auf der Wand vor sich sehen (ihre Köpfe sind fixiert, sie können sich nicht umdrehen, und das Sonnenlicht draußen würde sie auch blenden), sind nur die Schatten, die die wahren Dinge draußen vor der Höhle in diese werfen. Was die Menschen in Platons Höhlengleichnis für die Wirklichkeit halten, ist Abbild.
Das ist ein zentrales Motiv auch in Oniritti, denn Strauß ist von der Schattenhaftigkeit dessen, was wir für das wahre Leben halten, fest überzeugt. Es ist der Ehrgeiz seines Erzählprogramms, einen Blick dahin zu werfen, woher die Schatten fallen. Dafür dreht er das gewohnte Verhältnis von Traum und Wachen um: Der Traum ist reicher an Sein als der Wachzustand. Erst als Traumerscheinungen werden die Menschen fassbar und bedeutungsvoll, erreichen sie ihr volles Sein. „Erst wenn Menschen in der hochauflösenden Überdeutlichkeit des Traums erscheinen, wenn sie ihre formende Form beweisen, werden sie mir lesbar und zugänglich.“
Einmal ist vom „Dschungel leichtsinniger Kunst“ die Rede: „Geschickt geschriebene (…) Romane voll schlechtgesehener Menschen, schlechtgesehener menschlicher Begebenheiten, Schlechtgesehenem überhaupt.“ Je tiefer man in dieses Buch einsteigt, desto mehr erscheint einem der handelsübliche Realismus der Gegenwartsliteratur nur noch „schlechtgesehen“. Es ist, als hätte man mit Botho Strauß eine Infrarotbrille aufgesetzt, ein Nachtsichtgerät, das einem die Augen öffnet. Aber das, was man damit sieht, ist nichts, was man auf einen Punkt bringen könnte, auf einen Begriff oder eine Aussage. Oft sind es physiognomische Details wie jener „feste kleine Kniff von Abneigung an der Lippe einer Nymphomanin“, eine Kerbe, die Ausdruck von Widerwillen ist, „der eigentlich besser zu ihrem Nächstbesten paßte und den sie gewiß auch von so einem Kerl übernahm“. Dieses „Eckchen mimetischen Ekels“, wie der Erzähler es nennt, wird man als Leser nicht mehr vergessen, und doch könnte man nicht angeben, was dieses Menschenzeichen bedeutet.
Und sogleich fühlt man sich an die Kerbe der Nymphomanin erinnert, wenn man hundert Seiten später einem anderen Fall mimetischen Unglücks begegnet: „Um wieviel mehr besteht ein Mensch aus Abfärbungen als aus eigener Farbe! Auch die knurrende kleine Verkäuferin in der Poststelle ist nur so mürrisch geworden, weil sie es bei ihrer Berufsausübung mit unzähligen mürrischen Kunden zu tun hat und solchen, die aus einem Winkel der Anmaßung und Abschätzigkeit auf sie hinabsahen und deren Wahrnehmung an ihr haftenblieb und ihr Gesicht bedeckte wie eine blättrige Maske.“
Das, was der Augenschein zeigt, ist nur Abglanz, „Abfärbung“, nie das volle Sein, sondern Nachhall von etwas anderem, Früherem, weiter Zurückliegendem: „Es ist wie mit dem Leuchten erloschener Sterne. Erst Jahrhunderte nachdem der Himmelskörper verglühte, erreicht uns sein Explosionslicht. So ist, was wir sehen, vielleicht vor Lichtjahren geschehen, ist nur ein Nachscheinen längst aufgelassener Szenen. Und wie das Nachscheinen alles ist, was uns zu Augen kommt, besteht auch jedes Wort aus fernem Widerhall, und jeder heutige Tag ist nur ein Effekt aus umfassender Vergangenheit. Alles, was du siehst, war. Du lebst gelebt.“
„Wir Dichter erneuern nur den Seelenhauch“
Die absolute Ausnahmestellung, die Botho Strauß in der deutschen Gegenwartsliteratur einnimmt, hat damit zu tun, dass ausgerechnet er, der den archaisch-mythischen Nachwirkungen im Leben der Gegenwart nachlauscht, der letzte Modernist ist. Er kennt die Sehnsucht des Eremiten, aber das Material der Gegenwart wird von ihm früher und schärfer sondiert, als es jene, die ihm Weltflucht vorwerfen, je vermögen. Er führt die Erzählungen des Mythos und die der Naturwissenschaften zusammen, und wo alle anderen die Wirklichkeit in die Realismus-Klischees eines Plots verwandeln, arbeitet er sich am Fragment ab.
Seine große Kunst besteht dabei in einer echten poetologischen Innovation: Psychologie ohne Plot! Die psychologischen Reaktionsschemata seiner Figuren sind extrem komplex, aber das Schema ist dabei entscheidender als der Inhalt. Bei dem Mann im Coffeeshop, der auf die junge Frau einredet, die sich indes immer mehr verschließt, die zumacht, durch ihn hindurchsieht, werden wir nie den Inhalt seiner Worte, den Gegenstand der Auseinandersetzung erfahren, wir sehen nur all die Gesten, mit denen er die Frau zu halten sucht. Und doch kennen wir die Tiefenstruktur der ganzen Geschichte, wenn es am Ende der Szene heißt: „Urplötzlich bricht er aus, packt sie bei den Schultern und rüttelt sie wie ein verriegeltes Tor.“ Das ist nicht mehr die Semantik, sondern nur noch die Syntax der Psychologie.
Botho Strauß ist beides: Modernist und Romantiker – wenn wir darunter einen Wiederverzauberer der Welt verstehen. Doch seine Wiederverzauberung ist keine Flucht vor der Wirklichkeit, auch nicht ihre Verklärung, sondern ein Akt der Durchdringung, die das mythische Muster in der Gegenwart sichtbar macht: „Man beginnt herkulisch als Aufräumer und endet orphisch, die Riten der Auflösung befolgend. Einfacher gesagt: Man rafft seinen Krempel zusammen, man baut seine Jahrmarktsbude wieder ab.“
Dass Strauß mit Verachtung auf die Gegenwart schaut, das hat diese ihm nie verziehen. Im Zentrum von Oniritti stehen wie je bei ihm Fragen der Liebe, der Leidenschaft und des Paar-Seins. Was er der Gegenwart am meisten vorwirft, ist ihr Verlust an erotischer Kraft. Der Geschlechterkampf lebt von der Asymmetrie, vom Ungleichgewicht, das vollkommene Gleichgewicht wäre die Entropie. Wo aber nur von Gleichberechtigung die Rede ist, geht der Erotik die Luft aus. „Ob Mann, ob Frau. Gleichberechtigung endet, sobald der eine gehen will.“
Und damit uns Gegenwartsnarren nicht die Luft ausgeht, beschenkt uns Strauß mit seiner einzigartigen Sprache: „Wir Dichter erneuern nur den Seelenhauch. Wir sind ein kleiner Zulieferbetrieb der pneumatologischen Industrie. Wir tauschen hier und da ein bißchen vom verbrauchten Odem aus.“
Botho Strauß: Oniritti – Höhlenbilder. Hanser Verlag, München 2016; 288 S., 22,– €, als E-Book 16,99 €