Castorf verabschiedet sich mit monumentaler „Faust“-Inszenierung
Eine Ära geht zu Ende: Frank Castorf verabschiedet sich nach 25 Jahren als Intendant der Berliner Volksbühne. In seiner letzten Inszenierung gibt es das typische Chaos – und Seitenhiebe gegen seinen Nachfolger.
Von Christine Dössel, Berlin (Süddeutsche Zeitung)
Es ist das Ende einer Theater-Ära: Frank Castorf verabschiedet sich nach 25 Jahren als Intendant der Berliner Volksbühne. „Faust“, sehr frei erzählt nach Goethe, ist seine letzte große Inszenierung an dem Haus, bevor der umstrittene Museumsmann Chris Dercon es im Sommer übernimmt. Bei der Premiere am Freitagabend drängelte sich ein Publikum, das sich der historischen Ereignishaftigkeit des Abends sehr bewusst war. Und das am Ende – weit nach Mitternacht, nach einer siebenstündigen Aufführung mit nur einer Pause – ausgiebig jubelte. Vor Begeisterung, vor Freude und auch vor Erschöpfung.
Wie ist die Inszenierung?
Überwältigend, überbordend, überfordernd, imposant. So anstrengend wie faszinierend. Die Inszenierung kommt ungeheuer frei und sexy daher, aber auch politisch-nachdenklich, poetisch und ernst. Es gibt glänzende Bravour- und Kabinettstückchen, wahnsinnige Extempores, wunderschöne Liednummern und kreischende Frauen mit wenig an. Es gibt aber auch etliche Längen und quälenden Leerlauf. Typische Castorf-Strapazen, wo Szenen endlos ausgewälzt werden und man überhaupt nicht kapiert, worum es eigentlich geht. Denn das ist hier gar nicht immer nur Goethes „Faust“: Ganz viele Szenen handeln vom Algerienkonflikt und den Folgen der Kolonialisierung. Es geht darum, dass Europa den Terror, den es heute erfährt, selber gesät hat: „Bisher waren wir die Subjekte der Geschichte, jetzt sind wir die Objekte“, heißt es einmal. Castorf siedelt seinen Faust daher in Paris zur Zeit des Algerienkrieges an. Er erzählt – auch mit farbigen Schauspielern – vom Kampf der algerischen Befreiungsfront, bei dem der „entschleierten“ algerischen Frau eine besondere Rolle zukommt. Zum Beispiel, indem sie im Handtäschchen eine Bombe transportiert.
Im ersten Teil, vor der Pause, wird erstaunlich viel Goethe-Text gesprochen, vor allem aus der Tragödie erstem Teil. Die Reihenfolge der Szenen wird zwar wild durcheinandergerüttelt und von vornherein mit Motiven aus dem Welteroberungs-Fragment „Faust II“ aufgemischt. Aber die Grundzüge der Geschichte vom alternden Gelehrten Faust, der mit dem Teufel Mephisto einen Pakt eingeht und auf seiner Spritztour durch die weite Welt die junge Margarete – alias Gretchen – ins Unglück stürzt, diese Grundzüge werden im szenischen Chaos durchaus erkennbar. Da gibt es auch klare Rollenzuteilungen: Martin Wuttke spielt den alten Sinnsucher Faust und trägt als solcher anfangs eine fiese Greisenlatexmaske. Marc Hosemann ist der ordinär-humorige Mephisto. Und für das Gretchen wurde Valery Tscheplanowa engagiert, die bisher zum Ensemble des Münchner Residenztheaters gehörte, eine fulminante Schön- und Großsprecherin, die hier bei Castorf nicht nur ungeheuer lieb-, sondern auch aufreizend ist. Im zweiten Teil ist sie eine sehr freizügige Helena und verkörpert das Weibliche an sich. Nach der Pause verliert sich Castorfs „Faust“ jedoch sehr weiträumig in der Algerien-Thematik, die an diesem Abend den roten Faden bildet und direkt ins wunde Herz des heutigen Europas zielt.
Warum dann überhaupt „Faust“?
In dem kleinen Programmbuch, das zu „Faust“ erschienen ist (es trägt den schönen Titel „Wie man ein Arschloch wird“), gibt Castorf darauf diese Antwort: „Weil man mit dem Faust machen kann, was man will. Bei Goethe findet sich für jede Interpretation eine Begründung.“ Außerdem hätten ihn die sprachlichen Formen im „Faust“ interessiert: „die Dialekte und das Argot, die Alliterationen, die Blankverse, die verschiedenen Madrigale“. Damit spielt er in der Inszenierung meisterlich, und seine Schauspieler sind darin so toll wie tollwütig. Andere Themen im „Faust“ wie z.B. Magie, Alchemie, Genetik, Landgewinnung, Krieg dienen Castorf gewissermaßen nur als Leitmotive für seinen sehr persönlichen Feldzug, bei dem er vom Algerienkonflikt aus das heutige Europa ins Visier nimmt.
Wie ist Martin Wuttke als Faust?
Martin Wuttke ist einfach nur großartig: zum Niederknien. Die Rolle gibt ihm noch einmal die Gelegenheit zum ganz großen Schauspieler-Parcours. Wenn er als Uralt-Faust mit seiner Greisengummimaske im Gesicht sabbert und grummelt, dass man kaum was versteht, und am Krückstock wackelt, ist das urkomisch. Aber er kann, glatzköpfig und glutäugig, auch hundsgefährlich sein. Wuttke, die coole Socke, macht aus dem berühmten „Habe nun, ach“-Monolog des Studierzimmer-Fausts eine Riesen-Epileptiker-Nummer: krümmt sich, wälzt sich, taumelt, lallt – er erbricht förmlich den Faust. Einmal, da ist es schon nach Mitternacht, gibt Wuttke sehr ernst und traurig einen Partisanen in der U-Bahn, dabei spricht er einen Terror-Text, der einem durch Mark und Bein geht. Herrlich auch sein Iggy-Pop-Verschnitt als verjüngter Faust mit langem Blondhaar. Wuttke rocks.
Den hat selbstverständlich die immer tolle Sophie Rois, die Grande Dame unter den Volksbühnen(schreckens)weibern. Zwar tritt sie nur im ersten Teil des „Faust“-Marathons auf und da auch relativ spät, doch das ist dann allemal ein Höhepunkt. Erst vollzieht sie mit Krächzstimme und Rois´scher Autorität als Hexe ein Voodoo-Ritual, dann erscheint sie Wuttkes Faust als dominanter Erdgeist und wird im nächsten Moment zu einem lustig-enthusiastischen Famulus, der Zwischenapplaus einheimst. Rois und Wuttke, dieses Dream-Team der Castorf-Ära hier noch einmal in ihrem Element zu sehen, ist ein Ereignis. Bevor es in die Pause geht, stellt sich Sophie Rois zum Abschied in ihrem lila Hexen-Umhang hin und singt „Der Leiermann“ aus Schuberts „Winterreise“, begleitet vom Volksbühnen-Musiker Sir Henry auf dem Akkordeon. Ein Wahnsinns-Moment. Berührend ist aber auch, wenn der schwarze Schauspieler Abdoul Kader Traoré in einer Szene, die in der U-Bahn spielt, Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ sehr hart und nachdrücklich auf Französisch rezitiert.
Gibt es auch Anspielungen auf Castorfs Nachfolger Chris Dercon?
Aber ja, das lassen sie sich nicht entgehen. Die Anspielung hält sich aber in Grenzen und wird gleich am Anfang abgehandelt. Da gibt der superbe, sich mit glühender Intensität in den Abend stürzende Alexander Scheer den Theaterdirektor als alerten Stepptänzer mit belgisch-niederländischem Akzent. Er findet das auf der Bühne in deutschen Landen Vorgeführte „so negativ, null positiv“ und auch „ein bisschen provinziell“. „Think global, fuck local“ ist seine Devise. Wuttke schüttet ihm gleich mal ein Bier über den Kopf.
Baut Castorf sich auch selbst ein, als nach einem Vierteljahrhundert scheidender Intendant?
Es werden einige Szenen aus Émile Zolas Roman „Nana“ nachgespielt, der im Pariser Kurtisanen- und Theatermilieu spielt. Darin gibt es eine aus dem Ruder laufende Theaterprobe, wo der Schauspieler Daniel Zillmann sich als Theaterdirektor Monsieur Bordenave extrem echauffiert, seine Schauspieler herumscheucht und die Peitsche schwingt. In solchen Bildern zitiert Castorf sich dann schon auch selbst. „Ich mache die Bude zu, damit ich mich nicht weiter rumärgern muss“, ächzt da etwa Bordenave.
Ansonsten ist es eher die Figur des alten, ewig lüsternen, am Ende aber auch lächerlichen Mannes – also Faust -, in der Castorf sich zu spiegeln scheint. Letztlich inszeniert er an diesem Abend auch eine Hommage an die Frauen, speziell: an die berühmt-berüchtigten Volksbühnen-Luder mit all ihrer Hysterie und Sexiness. Bei „Faust“ sind es neben Valery Tscheplanowa die vier Grazien Lilith Stangenberg, Hanna Hilsdorf, Thelma Buabeng und Angela Guerreiro, die mit laszivem Körpereinsatz das Motto des Abends beglaubigen: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.“