Der Philosoph im Élysée-Palast
Digitale Emanzipation, besserer Zugang zu Bibliotheken: Was der neue französische Präsident Emmanuel Macron für die Kulturpolitik des Landes plant.
EBERHARD SPRENG
Er war 21 Jahre alt und Student der Philosophie, als ihn der Paul-Ricœur-Biograf François Dosse mit dem damals schon hochbetagten französischen Philosophen bekannt machte. Ricoeur arbeitete gerade an seinem „Gedächtnis, Geschichte, Vergessen“ und brauchte jemanden, der Ordnung ins Archiv brachte. Ricœur hat die Husserl’sche Phämonenologie in Frankreich eingeführt und eine kritische Neubewertung vermeintlich gesicherter geschichtlicher Erkenntnisse angestrebt. Er hat sich mit der unüberbrückbaren Kluft von subjektiver und objektiver Zeit befasst und mit der Frage, wie sie in der erinnernden Erzählung zur reinen Vorstellung wird.
Der neue französische Präsident Emmanuel Macron schmückt sich gern mit dem Kontakt zum großen französischen Geschichtsphilosophen und Verantwortungsethiker. Im Sender France Culture sagte er: „Von Paul Ricœur bleibt mir ein Gedanke in Erinnerung, an den ich mich seitdem halte: Auch ein Streit mit den Aussagen eines revisionistischen oder negationistischen Historikers muss möglich sein. Es reicht nicht zu sagen, er bewege sich außerhalb des Rahmens, er sei das Böse an sich, es geht darum, seine Argumentation in Bezug auf die Fakten zu dekonstruieren. Das ist es, was Paul Ricœur vermittelt: Es gibt einen Gegensatz zwischen der Spur der Geschichte als dem Ausdruck des Faktischen und der Vorstellung, die man sich von der Geschichte macht.“
Macron wirbt unermüdlich für komplexes Denken in einer komplexen Welt
Noch vor einem Monat hatte Marine Le Pen die französische Verantwortung für die „Rafle du Vél‘ d’Hiv“ im Jahre 1942 geleugnet, als in Paris mehr als 8000 Juden von der französischen Polizei verhaftet und im Wintervelodrom zusammengepfercht wurden, bevor die Deutschen sie in Vernichtungslager deportierten. In Zeiten, in denen westliche Demokratien vom Virus der Geschichtsleugnung, einer zerstörerischen Vereinfachung und Demagogie befallen werden, hat sich nun eine französische Mehrheit für einen Mann entschieden, der kaum eine Gelegenheit auslässt, für ein komplexes Denken in einer komplexen Welt zu werben.
Ein brillantes Wunderkind, umgeben von weisen alten Männern wie dem ehemaligen Herausgeber der sozialchristlichen Zeitschrift „Esprit“, Olivier Mongin, dem Schriftsteller Erik Orsenna, dem Ex- Banker und Cross-over-Denker Jean Pisany-Ferry und verheiratet mit seiner ehemaligen Französischlehrerin – das klingt nach einem ambitionierten Gegenprogramm zum modischen Populismus.
Macron möchte Kultur für möglichst viele zugänglich machen
Macrons Pläne für die Kultur lassen ahnen, dass er einem grundlegenden Problem des wachsenden Populismus entgegenwirken will: „Heute ist der Zugang des Publikums zu Kultur und Wissen entscheidend. Es muss Aufgabe des Staates sein, diesen Zugang zu ermöglichen, wo immer er dies kann. Ein jährlicher Kultur-Pass mit einem Wert vom 500 Euro soll allen jungen Menschen ab 18 Jahren ermöglichen, Bücher zu kaufen, ins Theater zu gehen, womöglich zum ersten Mal in ihrem Leben.“ Finanzieren soll das zu einem Teil der Staat, im Wesentlichen aber die GAFA, die großen Internetkonzerne.
GAFA nennt man vor allem in Frankreich die globalen Monopole Google, Amazon, Facebook und Apple. Derzeit sind sie ausschließlich Nutznießer eines digitalisierten Wissens und der digital verbreiteten künstlerischen Produktion. Emmanuel Macron möchte sie für sein Kulturprojekt zu Partnern machen.
Das bedeutet nichts anderes als eine Kulturalisierung des Digitalen und ist ein nicht ganz neuer französischer Traum. Macron sagt: „Die digitale Technik bedeutet die Globalisierung des Imaginären. Das verändert unser politisches Leben. Die Welt ist komplex, und dieser Komplexität wollte ich mit meinem Buch ,Revolution‘ gerecht werden“, sagt Macron. „Die GAFA spielen eine entscheidende Rolle. Das Digitale ist ein neues Universum, aber die Inhalte sind die alten: intellektuelle und künstlerische Produkte von Menschen. Es ist undenkbar, dieses Universum ungeregelt sich selbst zu überlassen. Im Moment herrscht da das Faustrecht; eine internationale Gesetzgebung gibt es dafür nicht.“
Macron hat nicht vor, sich in einem Prestigeprojekt zu verewigen
Damit meint er allerdings auch eine Besteuerung und die Durchsetzung einer internationalen Reglementierung. Er will, dass die Großkonzerne im Kampf für bessere Zugänge zu Kultur ihren Beitrag leisten und die Produktion künstlerischer Inhalte mitfinanzieren: „Wenn sie einen Inhalt verbreiten, muss dessen Schöpfer dafür bezahlt werden. Aber im Moment kostet sie dieser Inhalt nichts.“ Ein europäisch reglementierter Markt eines kulturell gezähmten Verkehrs digitaler Inhalte, finanziert von den amerikanischen Global Players – das Projekt ist so ambitioniert, dass es an ein Wunder grenzt, wenn Macron es in fünf Jahren in die Wirklichkeit überführen könnte.
Realisierbarer, wenn auch potenziell von Streiks öffentlicher Angestellter überschattet, dürfte das Vorhaben für einen verbesserten Zugang zum weitgehend noch physischen Wissens- und Kulturgut sein. Macron stellt fest: „Ein wichtiger Punkt sind die Öffnungszeiten unserer 7000 Bibliotheken. Im Schnitt sind sie in Frankreich 40 Stunden in der Woche geöffnet. In Kopenhagen sind sie es 90 Stunden. Ein Oberschüler oder Student hat nichts von einer Bibliothek, die an Wochentagen um 18 Uhr zumacht und am Wochenende ganz geschlossen ist. Das ist Ungerechtigkeit, denn die Ärmsten leiden darunter.“ Macrons politisches Projekt heißt Emanzipation. „Ich will, dass jeder seine Situation verbessern und seinen engen Rahmen verlassen kann.“
Fast jeder der Präsidenten der fünften Republik hat sich in einem großes Prestigeprojekt verewigt: Pompidou ließ sich von Renzo Piano das Centre Pompidou bauen. Mitterand leistete sich die Très Grande Bibliothèque, Chirac im Dienste des Kulturdialogs das ethnologische Musée du Quai Branly. Macron will, wie schon vor ihm Hollande, auf solche monarchischen Architekturgesten verzichten. „Weitere große Kulturinstitutionen haben keine Priorität. Als das Centre Pompidou gebaut wurde, gab es einen Nachholbedarf. Aber heute haben wir die Institutionen, die wir brauchen.“
Ein Problem Frankreichs: die vielen verschiedenen nationalen Narrative
In Bezug auf den Dialog der Kulturen im eigenen Land und den religiösen Fundamentalismus insbesondere islamischer und neuerdings auch fundamentalkatholischer Couleur hält sich der junge Präsident an die Tradition des laizistischen Staates, wie er seit dem Gesetz von 1905 über die Trennung von Staat und Religion zum Ausdruck kommt. Auch hier greift er noch einmal auf den 2005 verstorbenen Paul Ricœur zurück, der sowohl auf dem alten Kontinent als auch in Chicago lehrte und sich für eine Vermittlung französischer, angelsächsischer und deutscher Denktraditionen einsetzte.
Neben unzähligen anderen Problemen steht Frankreich vor dem potenziellen Konflikt von Bevölkerungsgruppen, die allesamt an unterschiedlichen nationalen Narrativen festhalten und die Frage, was Frankreich ist, ganz unterschiedlich beantworten. Die Kluft zwischen Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur bei Paul Ricœur schon als Philosophiestudent kennengelernt zu haben, kann Macron im Präsidentenamt nur helfen.