Sind Sie „Ur“-Berliner oder ein zugezogener? Egal. Wohl, jeder Berliner und auch einige Besucher nehmen sich vor, auf dem Berliner Mauerweg spazieren zu gehen, zu wandern oder zu radeln. Wenigstens in Teilen. Jetzt im Herbst ist es genau die passende Jahreszeit, um diesen Vorsatz einzulösen. Hilfreich dazu ist das aktuelle Buch von Björn Kuhligk, der sich zur Corona-Zeit im Hochsommer(!)den Mauerweg an vier Tagen erradelte:
160 Kilometer um das einstige West-Berlin herum, das als Enklave bis 1989 in der ehemeligen DDR überleben musste.
Vergangenes und Neues
Um es vorweg zu nehmen: Björn Kuhligks Strapazen haben sich gelohnt. Denn das aus der Tour entstandene Buch begleitet die Leser, ob jung oder alt, aus Ost oder West, Nord oder Süd durch ein Berlin, dass es seit Langem nicht mehr gibt. Björn Kuhligk schrubbt nicht nur Kilometer, will nicht nur die Strecke „abhaken“, er begibt sich auf Spurensuche von West-Berlin, z.T. in seine eigene Vergangenheit. Mit jedem gefahrenen Kilometer kommen Erinnerungen, ganz persönliche, aber auch politische und gesellschaftliche. Er erinnert sich an Landschaften seiner Kindheit, nimmt neue neu wahr, erinnerst sich an West- Berlin als eine eigentlich halbe Stadt.
Die Beschreibungen der Menschen, die er auf seiner Tour trifft, faszinieren. Ältere, die sich an die Mauerzeit vor 33 Jahren erinnern und wie das Gefühl war, wenn sie die Grenze von West-Berliner Seite in den Osten passierten. Jüngere, die die Grenze nur aus den Schulbüchern kennen und ihm beim Vorbeifahren zurufen: „Ey Digga, Grüße gehen raus an dich!“ Björn Kuhligk, Jahrgang 1975, erinnert sich an seine Familie in den 80er, den Vater mit einer dicken Brille, die Mutter in Jacketts mit Schulterpolstern, die Schwester in Röhren-Jeans und sich selbst Kniestrümpfe und Schweißbänder tragend, auch bei über 30 Grad C.
Die 160 Kilometer lange Tour erzählt von Bauer Bathe, bei dem in Gatow Erdbeeren selbst geerntet werden konnten, Schriftsteller Jan Brandt, der anfing zu joggen oder Sabine, die beschreibt wie sie die Nacht des Mauerfalls am 9. November 1989 erlebt hat. Und auch an die Amtszeiten von Schulsenatorin Hanna-Renate Laurien und Bürgermeister Eberhard Diepgen erinnert sich Kuhligk. Die Ereignisse auf der Waldbühne mit den Rolling Stones, mit Herbert Grönemeyer und Bruce Springsteen beschreibt er ebenso, wie Veranstaltungen im Olympiastadion, der Deutschland-, Eissport- oder Messehalle. Viele seiner Erinnerungen und Begegnungen stellt er in einen historischen Kontext, wie z.B. das Olympiastadion.
Autobahnen, Kanäle, Rieselfelder und Wiesen tauchen immer wieder auf – natürlich in dem ehemals geschlossenen Territorium.
15 Kapitel rund um West-Berlin
Die Themenvielfalt und Detailbeschreibungen auf dem Mauerweg schienen für Björn Kuhligk in den 15 Kapiteln unerschöpflich:
Ich war 14
Vom Hermannplatz nach Rudow
Von Gropiusstadt nach Teltow
Vom Teltowkanal zum Königsweg
„wir waren mal in Marzahn“
Von der Avus bis zu Loretta am Wannsee
Über den Wannsee bis nach Gatow
Von Bauer Bathe bis zum Hahneberg
Zu Besuch bei Aras Ören
„wir sind dann raus nach Brandenburg“
Von Staaken und Übereiskeller bis nach Spandau
Von einem Wachturm über Lübars in die Schönholzer Heide
Von Bolle bis zur Oberbaumbrücke
Von der Lohmühle bis zur Sonnenallee
Durch den Grunewald
Jedes einzelne Kapitel erzählt von Begebenheiten, Menschen mit ihren Gefühlen und Besonderheiten. Ohne dabei aufdringlich zu menscheln. Man hat Seite für Seite Lust zu erfahren, wie es den Menschen in ihrer Eingesperrtheit West-Berlinserging, erfährt weniger Bekanntes, viel Neues.
Um immer wieder spannt der Autor einen Bogen zu seinen persönlichen Erinnerungen und macht das Buch dadurch sehr lesenswert und authentisch.
Das Gesamtwerk ist des Lobes voll – ja durchaus. Aber ein kleiner Wunsch für die nächste Auflage, die bestimmt kommt, kommen muss, bleibt offen:
Eine übersichtliche Tourenkarte – nicht nur für Nicht-Berliner – wäre sehr hilfreich. Aber ich radle so und so nach den Geschichten.
Überall Nachbarn
Wie ich auf dem Mauerweg das alte West-Berlin umrundete
von Björn Kuhligk
bebra Verlag, 272 Seiten, 16 s/w-Abbildungen
ISBN 978-3-8148-0265-7
1. Auflage, September 2022
Artikelfoto: Mauerweg 1990, Foto: © gab