25 Jahre nach der Wiedervereinigung erzählen Binzer von ihren Gründerjahren:
Anno 1990 – das Jahr Null für die Villenretter
Ostseebad Binz und Hamburg, Juni 2015 (gr) Stolz präsentieren die Hausherren ihre Bäderarchitektur-Villen, schließlich sind die weißen Häuser aus der Gründerzeit das Aushängeschild von Binz. Und denken dabei an ihre eigenen Gründerjahre, als sie die baufälligen Häuser an der Strandpromenade mühsam aufpäppelten. Die Wendezeit geriet für sie alle zum Neuanfang, egal ob Banker aus Bayern, Lehrerin und Bauingenieur aus Binz oder Künstler aus dem Elsass. Im Jahre 25 nach der Wiedervereinigung erzählen einige der Villenretter ihre Geschichte – von dicken Aktenordnern und Zweifeln, von Bankkrediten und harter Arbeit. Aber auch von erfüllten Erwartungen und einem tiefen Gefühl von Heimat.
An den Wochenenden war München-Binz jahrelang ihre Hausstrecke
Alles begann 1992, die Worte seiner Mutter hat Michael Gronegger noch im Ohr: „Wir sollen es zurückbekommen, das weiße Haus am Meer.“ Haus Klünder, das Vorfahrin Alwine Klünder 1905 an der Strandpromenade von Binz bauen ließ, soll ihnen gehören? Gerade erst waren seine Frau Ingeborg und er dort gewesen. Wahrscheinlich waren sie an dem Haus vorbeispaziert, ohne zu ahnen, dass es ihre Zukunft sein würde. Ein Jahr später fuhr das Ehepaar aus Bayern erneut hin. „Das sieht ja fürchterlich aus. Das müssen wir schnell verkaufen“, meinte Ingeborg beim Anblick der baufälligen Immobilie, doch der Banker erkannte das Potenzial: „Verkaufen können wir immer noch.“ Gleich nach der Rückübertragung im Dezember 1995 begannen die Groneggers mit dem Umbau. „Das werden Sie nicht schaffen“ kommentierte eine Mitarbeiterin im Bauamt ihre ehrgeizigen Pläne. Das Ehepaar blieb erst mal in Bayern wohnen, wegen der Arbeit mit regelmäßigem Einkommen. An den Wochenenden wurde die Verbindung München-Binz zur Hausstrecke. „Unser Rekord liegt bei sieben Stunden und drei Minuten“, erzählen Groneggers. In der Woche Alpenblick, am Wochenende Ostsee. Endlose Gespräche mit den übrigen Erben und der Bank kosteten Zeit und Nerven, aber am Ende gehörte Villa Klünder den Groneggers. Inklusive des alten Weinkellers, den sie im zugemauerten Gewölbe unter dem Turm des Hauses gefunden hatten. 1998 kamen die ersten Feriengäste und 2002 konnte Michael Gronegger bei der Bank aussteigen, jetzt stand einem Umzug nichts mehr im Weg. „Für uns ist es perfekt gelaufen“, resümiert das Ehepaar und Michael Gronegger fügt hinzu: „Ich versuche es immer so zu machen, dass Alwine damit einverstanden wäre.“
Vom Plattenbau in Binz in die Villa mit Ostseeblick
„Haus Colmsee“, über dem Eingang der weiß getünchten Villa mit markantem Turm an der Strandpromenade 8 prangt der Name in dicken Lettern. Er war schon zu DDR-Zeiten nicht zu übersehen. Manchmal kamen die Binzer Karin und Helmar Colmsee vorbei, „aber wir hatten keine Bindung dazu“, erinnert sich Karin Colmsee. Die Lehrerin und der Bauingenieur lebten damals am anderen Ende des Ortes, in der Platte ohne Meerblick. Mit der Wiedervereinigung kam die persönliche Wende: 1997 bekam Helmar Colmsee das Haus zurück, das seine Tante bis zur Enteignung im Zuge der „Aktion Rose“ bewirtschaftet hatte. „Allerhand Unterlagen“ und „ein Konzept, was mit dem Ding passieren soll“, mussten Karin und Helmar Colmsee vorlegen, bevor sie endlich die Schlüssel für ihre Villa in den Händen hielten. Eine anstrengende Zeit war das, in den Anfangsjahren schwebte die berufliche und finanzielle Unsicherheit über allem. Dazu die Befürchtung, ob überhaupt genug Touristen den Weg ins Ostseebad Binz finden würden. Die Colmsees überwanden all ihre Ängste und 1999 konnten sie die komplett sanierte Pension wieder eröffnen. In den aufregenden Jahren davor und danach gab es viel Zuspruch von Einheimischen, die es gut fanden, dass „einer von uns“ eine Villa vorne an der Promenade zugesprochen bekam. „Erstmal wollten wir das furchtbar runtergewirtschaftete Haus nur zum Leben bringen“, meint Helmar Colmsee. Allmählich wuchsen die Bindung zum Haus und das Gefühl, durch die veränderte politische Lage großes Glück gehabt zu haben. Bei einer Fahrt an die West-Ostsee merkte das Ehepaar, wie wertvoll die intakte Natur rund um Binz und die erhaltene Bausubstanz sind. Da, wo laut Helmar Colmsee „alles allen gehörte und keiner sich verantwortlich fühlte“ konnte die am Strand gelegene Villa in Ruhe überwintern – mehr als 40 Jahre lang.
Vom Globetrotter und Hausbesetzer zum renommierten Rügener Künstler
„Manchmal muss man einfach Glück haben“, sagt der Wahl-Binzer Robert Denier. Als die Mauer fiel, saß der gebürtige Elsässer im Flieger. „Ich war damals in New York und musste nach Berlin. Und danach wollte ich mir die DDR ansehen“, erzählt der Fotograf. Also fuhr er los und immer weiter, bis das Meer ihn stoppte, am Strand von Binz auf Rügen. „Es war fantastisch“, sagt er, „eiskalt, aber ein sehr klares, schönes Licht“. Robert Denier wollte bleiben, Rügen schmeckte nach Freiheit: „Hier konnte man alles machen. Es war ja nichts da.“ Zusammen mit einigen Künstlerfreunden besetzte Denier die leer stehende Villa Bellevue an der Strandpromenade, tatkräftig verwandelten sie das marode Gebäude mit 600 Litern weißer Farbe, die damalige Kurdirektorin kam zur Vernissage und mit den Eigentümern der Villa einigte man sich dann auch irgendwann auf einen Verbleib der Künstler. Heute betreibt Robert Denier mit dem Maler Andreas Schiller ein Atelier samt Galerie im Anbau der sanierten Gebäudes. Und obwohl Deniers Panoramafotografien fast immer die Natur der Insel zeigen, bedeutet es ihm viel, mitten in Binz und umgeben von den Bäderarchitektur-Villen arbeiten zu dürfen. „Ohne die Villen wäre Binz nicht Binz. Dann würde das Bild nicht mehr stimmen und ich hätte Binz längst verlassen“, sagt der Franzose. Er erinnert sich an eine Episode, die er vor ein paar Jahren erlebte: „Ein farbiger Mann ging auf der Strandpromenade spazieren und rief: ‚Das sieht hier ja aus wie in New Orleans!’ Ist doch seltsam, wenn man einmal um die Welt reist und dann dort ein Zuhause findet.“
Sein Zuhause. Inzwischen gehört Robert Denier in Binz dazu, der Anfang aber war schwierig. Ein Franzose, der nur wenig Deutsch spricht, mit seiner Kamera über die Insel zieht und auf das richtige Licht wartet – das erschien den Rüganern allzu seltsam. „In den ersten Jahren hat mich niemand gegrüßt“, erinnert sich Robert Denier. Er ahnte, dass die Insulaner „Zeit brauchen, um jemanden in ihr Herz zu schließen.“ Inzwischen ist er drin, wird gegrüßt und gemocht – und fühlt sich richtig wohl. „Hier kann ich zu meiner Galerie radeln und passablen Café Crème gibt’s auch gleich nebenan.“ In der unmittelbaren Nähe seines Ateliers haben sich in der Margaretenstraße weitere Kreative angesiedelt – daraus ist die Binzer Kunstmeile entstanden.
Schlaflose Nächte, hohe Kredite und die Bundeskanzlerin zum Mittagessen
„Es war sehr viel Arbeit, manchmal ein bisschen zu viel“, erkennt Harald Schewe im Rückblick. Dazu noch die Sorgen, ob sie es schaffen würden. Zusammen mit seiner Frau Regine hatte er nach der Wende die Villa Salve an der Strandpromenade gekauft, die zu DDR-Zeiten erst Ferienheim, dann Sanatorium und schließlich ein Kindergarten war und sich deshalb in einem „halbwegs ordentlichen Zustand“ befand. „Ganz viele unserer Freunde und Bekannten sind damals ausgereist“, erinnert sich Harald Schewe, nach Westdeutschland oder noch weiter weg. Sie selbst aber hatten das Bedürfnis, auf ihrer Heimatinsel Rügen als Quereinsteiger in der Gastronomiebranche neue Ufer anzusteuern und investierten in das Haus: Zeit, Kraft und Nerven. Im Sommer 1993 konnten sie das Hotel mit Restaurant, Cocktailbar und großer Terrasse eröffnen, Binz hatte seinen ersten gastronomischen Leuchtturm.
Die schwierigen Jahre waren damit jedoch noch längst nicht vorbei. Schlaflose Nächte und hohe Kredite tauchen in der Erinnerung auf. Und ein Herzinfarkt. Aber auch schöne Episoden. Weil es den Schewes ein Anliegen war, die Villa möglichst detailgetreu wieder herzurichten, fuhr Harald Schewe mit alten Fotos im Gepäck in das italienische Carrara.
Dort ließ er in einer Marmorwerkstatt die Aphrodite vom Dachfirst wieder herrichten und die kaputten Löwen reparieren. Den Springbrunnen mit Pferdeköpfen kaufte er auch in Italien: „Ich habe ihn in Gedanken gleich vor dem Haus gesehen“.
Seit mehr als 20 Jahren sprudelt der Blickfang nun an seinem Platz vor der Villa. Wer heute am frühen Abend auf der Terrasse der Villa Salve sitzt, den Blick auf die Ostsee genießt und sich aus der Bar dazu einen Mint Julep servieren lässt, so wie ihn vielleicht schon die Gräfin Kreis, Erbauerin der Villa 1899 getrunken hat, vermag sich kaum vorzustellen, wie es hier vor 25 Jahren aussah. Inzwischen hat das kleine Hotel mit den originalgetreuen Stilmöbeln in den Zimmern viele Stammgäste. Auch die Bundeskanzlerin übernachtet hier ab und zu oder bringt Gäste wie Frankreichs Präsidenten François Hollande zum Mittagessen mit. Angela Merkel und Harald Schewe kennen sich seit 1990, als sie auf Rügen auf Wahlkampftour war und wenig später in den Deutschen Bundestag einzog. Seitdem ist das Verhältnis der beiden freundschaftlich, Harald Schewe hat sogar ihre private Handynummer, „und wenn mir was nicht passt, schreibe ich einen Brief und meckere mit ihr.“ Ans Aufhören denken Regine und Harald Schewe noch lange nicht. Doch die Weichen für die Zukunft sind gestellt: Tochter Franziska und Sohn Franz werden später in den Familienbetrieb einsteigen.