Charismatischer Auftritt: Compagnie Sasha Waltz & Guests

Um es vorweg zu nehmen. Es war ein besonderes künstlerisches Tanzerlebnis nach der langen Corona-Pause. Das Publikum hungrig nach endlich wieder stattfindenden Veranstaltungen und gleichzeitig erwartungsvoll, wie die bestehenden Corona-Auflagen Anwendung finden – ohne das eigentliche Kunstereignis zu stören. Zum besonderen Ereignis, unter besonderer Einhaltung der Corona-Regelungen, wurde letzte Woche vier Auftritte mit der Compagnie Sasha Waltz & Guests »Dialoge 2020 – Relevante Systeme« im Radialsystem V Berlin. Das ehemalige Pumpenwerk mit seiner räumlichen Vielseitigkeit zeigte sich wie geschaffen für diesen 2020er Dialog, der gesellschaftlich und politisch relevante Ereignisse aufgriff.

Rassismus im Dialog
Sasha Waltz -Dialoge 2020 Relevante Systeme, © Luna Zscharnt

Carolin Emcke, Autorin und Publizistin, ausgezeichnet mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, reflektiert zu Beginn per Video über Hass und Gewalt. Das gesamte Areal Realsystems avancierte zu einer Bühne. Langsam spazierend erobern die Besucher das Terrain. Versteckt in Nischen zwischen den Gebäuden oder deutlich präsent im gesamten architektonischen Raum tanzten und bewegten sich Solisten*innen, begleitet von Georg Friedrich Haas‘ Trompetensolo „I can’t breathe“. Das Solo entstand 2014 als unmittelbare Reaktion auf den gewaltsamen Tod von Eric Garner. Marco Blaauw spielte das Stück live und spektakulär. Sein Solo durchdrang den gesamten Hof und erzeugte zusammen mit den Bewegungen der einzelnen Tänzer*innen an diesem Sommerabend ein Frösteln. Die Solisten*innen griffen das musikalische Hauptmotiv, Diskriminierung, choreographisch auf. Bilder und Bewegungen assozierten auch den gewaltsamen Tod des 46-jährigen Afroamerikaner George Perry Floyd, wenn sich vor scheinbaren Schlägen und Fesseln gewunden wird, man sich an Häuserwänden windet und drückt oder reglos irgendwo liegen bleibt. In den auffallenden und überzeugenden Bewegungen  fühlte man das Einssein der Akteure mit dem öffentlichen Raum und der Architektur an der Spree.
Dann ersterben Töne und Bewegungen.

„Sacre“ 2020
Sasha Waltz -Dialoge 2020 Relevante Systeme, © Luna Zscharnt

Der Break lässt genug Zeit zum Durchatmen und für den Themen- und Ortswechsel. Nach drei Farben differenziert formieren sich die Besucher räumlich getrennt für den 2.Teil des Abends. »Sacre« sollte ursprünglich in seiner ganzen tänzerischen Größe im August in Berlin aufgeführt werden. Jetzt präsentierte Sasha Waltz eine kleinere Fassung mit neun Tänze*innen pro Auftrittsort, zeitgleich auf der Spree-Terrasse, dem Saal und im Garten. Eine sehr gute Lösung, verbindet es die Zuschauer – trotz streng eingehaltener Abstandsregelungen – enger mit den Tänzer*innen. Ihr Tanz und ihre Bewegungen sind unmittelbarer erlebbar, fügen sich der spannungsreichen Musik von Igor Strawinsky. Der starke Rhythmus, die sich wiederholenden Motive prägen den Tanz. Als Solo oder in der Gruppe, gefühlvolle Annäherung oder expressives Auseinanderdriften. Die Bewegungen dokumentieren Freud oder Leid, aber auch die Grausamkeit, die sich durch die Geschichte ergibt: Ein menschliches Opfer, dass die Gemeinschaft erbringt, damit die Zukunft, das weitere Leben, gesichert wird. Dialoge, die die Gruppe mit der auserwählten Jungfrau tänzerisch kraftvoll und exzellent austragen. Dazu kommt die gefühlvolle Anbetung der Natur, die Verbundenheit zur Erde, die besonders überzeugend im Garten des Radialsystem gelingt. Die Besonderheit des Auftrittsortes ist sowohl bei den Tänzer*innen als auch den Besuchern zu spüren, wenn die Erde, Bäume und Sträucher in den Tanz  einbezogen werden. Die Jungfrau wird geopfert oder opfert sie sich? Ein äußerer und innerer Kampf. Sie stirbt und der kommende Frühling bedeutet neues Leben.

Die Leichtigkeit des Seins

Und das reale Leben tanzt im überraschenden 3.Teil des Abends in vollen Zügen. Der Hof des Radialsystem wird zum Mittelpunkt des Lebens. Der Bolero gibt den Takt an. Anfangs treffen sich unterschiedliche kleine Gruppen, tanzen miteinander in einer Leichtigkeit, die auf die Zuschauer überspringt. Eigentlich möchte man mittanzen. Fröhlich, lebensfroh und professionell schwungvoll nähern sich die Tänzer*innen, treten in Dialoge, auch physiognomisch. Ihre Gesichter und Körper flirten, flachsen und umwerben sich. Längst ist der Platz wie durch einen Flashmob mit allen 27 Tänzer*innen gefüllt. Man spürt ihre Leichtigkeit, die Freude in ihren Bewegungen, die sie zu Ravels Musik immer wieder neu interpretieren.
Ein tänzerisch ausgelassener Abschluss dieses gesamten, anregenden und wunderbaren Tanzabends.
Besucherin Irina Bendig aus Hamburg verlässt ihn, nimmt ihren Mundschutz ab und stellt laut fest: „Kunst und Kultur sind systemrelevant.“

 

Marco Blaauw tritt am 9., 11. und 14. September 2020 beim Musikfest Berlin auf.

 

Artikelfoto: Sasha Waltz -Dialoge 2020 Relevante Systeme, © Luna Zscharnt