Quelle: Gourmet Report
Berlin, Gourmet Hauptstadt Deutschlands – Koch des Jahres: Daniel Achilles vom „Reinstoff“ – Hendrik Otto vom „Lorenz Adlon“ kocht sich in die deutsche Küchenspitze – Tim Raue ist „Restaurateur des Jahres“ – Markus Semmler aus dem Stand 16 Punkte
Der neue Gault&Millau ehrt Achilles, weil er aus vermeintlich einfachen Produkten große Küche macht . Als „Koch des Jahres“ kürt der Guide den 37-jährige Daniel Achilles vom Berliner Restaurant „Reinstoff“ und proklamiert: „Wie er aus vermeintlich einfachen Produkten große Küche macht, das empfinden wir als im höchsten Maße zeitgemäß. Denn ein teuer eingekaufter Steinbutt schmeckt per se gut, doch weil ein Wels oder ein Petermännchen eher dem Budget eines jungen, selbstständigen Kochs entsprechen, wird hier der Mehrwert durch eigene Denkarbeit und hohen Aufwand in der Küche geleistet.“ Sie „bietet bei aller Präzision und Produktbesessenheit auch sinnlich-süffigen Genuss und Witz“ und „entwickelt sich gegenwärtig von allen Berliner Küchen am schnellsten voran.“ „Um geschmackliche Funken in einem durch und durch eigenständigen Stil zu schlagen, genügen Achilles marinierter Strömling mit Äpfeln, Blüten, Zwiebel und ‚Mini-Smörrebröd‘, ein herrlich intensives Ochsenschwanz-Curry mit Linsen und Mango, das indische Einflüsse auf höchstem Niveau interpretiert oder gerösteter und gehobelter Kohlrabi, ein sanft-sahniger Sud mit Nudelblättern und ein Hauch Seezungen-Bottarga.“
Für solche Gerichte erhält der gebürtige Leipziger, dessen Mutter Köchin war und der sich die höheren Weihen bei Kochstars wie dem deutschen Molekular-Pionier Juan Amador und dem Zeitgeistrepräsentanten Christian Bau holte, 18 von 20 möglichen Punkten. Sie stehen in dem Guide, der nach dem französischen Schulnotensystem urteilt, für „höchste Kreativität und bestmögliche Zubereitung”. 2009, im Eröffnungsjahr des „Reinstoff“, hatte der Gault&Millau den „Workaholic“ Achilles, der in seiner Freizeit gern elektronische Musik hört, als „Entdeckung des Jahres“ serviert.
Auf 18 Punkte steigert sich auch Hendrik Otto vom „Lorenz Adlon Esszimmer“. Er „brilliert durch extremen technischen Schwierigkeitsgrad und klassische Luxusprodukte. Was da schlicht ‚Gänseleber/Briochecreme‘ heißt, ist ein komplizierter, geschichteter Aufbau aus zahlreichen Elementen, die geschmacklich hochpräzise ineinandergreifen: die Gänseleber auf drei Arten, dazwischen Polenta, Aromen von Orangenschale, Kaffee, Zwetschgen, Trüffel, Brioche, ein wenig weiße Geleespaghetti. Die in der vergangenen Testsaison weitgehend obligatorische Barbecue- Inspiration kam hier als kleiner Zwischengang, aber wie: In einer roten Keramikschüssel mit Gulasch-Paprikasaft, den wir am liebsten noch einmal zum Löffeln nachbestellt hätten, lagen ein Würfel Short Rib vom Nebraska- Rind, bedeckt mit Mais und ein paar anderen Knusperelementen, und ein gebratener Kartoffelwürfel mit dem Sauerrahm im Inneren.“
Auf 16 Punkte und damit jene Klasse, in der nach Gault&Millau-Verständnis Kochen zur Kunst wird, steigern sich Andreas Lochner in seinem „Lochner“ im Tiergarten („zum schon immer gelobten hohen handwerklichen Niveau kam mehr kombinatorische und aromatische Spannung in den Gerichten“) und Markus Semmler vom gleichnamigen Restaurant in Wilmersdorf, „der seine avantgardistischen Ambitionen für traditionelle Kochkunst mit besten Produkten in großer Klassik fahren ließ“). Dieselbe Note erkocht sich auf Anhieb Roel Lintermans im „Les Solistes by Pierre Gagnaire“, das „als angemessene Gegenleistung für fürstliche Preise solche Gerichte bietet: Zwei mächtige gebratene Langoustinen bilden mit etwas Tomate auf geschmolzenem Chicorée und etwas Blutampfer das Zentrum, dazu gibt es auf Teller zwei ein Langoustinen- Carpaccio auf subtilen Rettichwürfeln mit einem Tupfer Amontillado-Gel, auf Teller drei eine Langoustinen-Royale mit Petersilienpüree und Enoki-Pilzen.“
Platz 1 der kulinarischen Hitparade des Gault&Millau in Berlin verteidigt souverän der asiatisch inspirierte Tim Raue „Seine Kompositionen hinterlassen deshalb einen so überzeugenden Eindruck, weil die Küche die komplexen Elemente nicht eitel einzeln ausstellt und dem zufälligen Zugriff des Gastes überlässt, sondern sie der Hauptsache dramaturgisch konsequent unterordnet. Deshalb gibt es zum gedämpften Doradenfilet eben keine Zutatenkarawane, sondern einen Sud, der diese Zutaten nach asiatischer Tradition in sich vereint: Kalb, Schwein, Huhn, Pilze, Sellerie, Yuzu. Als Gipfel unter diesen kulinarischen Achttausendern empfanden wir das makellose Steinbuttfilet mit Dashi und Bonitoflocken, begleitet von einer kleinen Spur aus Ingwer, Erbsen und Melone, saftig umrundet von einem Püree aus Erbsen und Zwiebeln mit Melonensaft.“ Raue wurde von dem Guide auch als „Restaurateur des Jahres“ gekürt, weil er in Berlin noch zwei Restaurants mit unterschiedlichen kulinarischen Konzepten führt, das thailändische „Sra Bua“ im „Adlon“ und das neo-bürgerliche „La Soupe Populaire“ in Prenzlauer Berg.
In die Rolle seines Kronprinzen teilen sich Achilles und Otto mit Michael Hoffmann vom „Margaux“, „einem unbestrittenen Pionier der Gemüseküche, der den jetzt allenthalben sprießenden vegetarischen und veganen Restaurants mit ihren bestenfalls begabten Amateurköchen handwerklich und stilistisch Lichtjahre voraus ist. Die oft geradezu süffige Aromatik seiner vegetarischen Kompositionen bietet Spaß statt Dogma. Hier geht es nicht darum, mit drübergestreuten ‚Wildkräutern‘ ökologische Gesinnung zu demonstrieren, sondern durch präzise Verarbeitung der unzähligen Gemüse und Kräuter, die Hoffmann am Stadtrand anbaut, das komplette Aromenspektrum aufzufächern. In Skandinavien wäre Hoffmann schon seit Jahren weltberühmt – in Berlin kann er es immer noch werden. Hier aber nur bis Februar 2014, denn dann schließt das Margaux.“
Dem Trio folgen mit je 17 Punkten für eindrucksvolle, aber nicht immer völlig gelungene Gerichte:
· · Matthias Diether vom „First Floor“ in Charlottenburg („Der gebratene Schweinebauch ging mit pochierten Austern eine recht harmonische Verbindung ein, weil Artischocken den widerstrebenden Partnern eine herb-mineralische Brücke bauten“),
· · Sebastian Frank vom „Horváth“ in Kreuzberg („Erdfrüchte alias Rote und Gelbe Bete sowie Knollensellerie vom Holzkohlegrill lagen in einem Bett aus eingedickter saurer Rahmsuppe mit Kümmel, bedeckt mit einer dicken Schicht aus schwarzer Lauchasche , der Tellerrand blieb weiß. Das sah zwar faszinierend aus und schmeckte auch, aber die Asche hinterließ ein dumpfes, staubiges Gefühl auf der Zunge“),
· · Sonja Frühsammer vom „Frühsammers“ in Grunewald („spielerisch kombinierte, recht gemüsebetonte Gerichte wie Meerwolf mit Tomaten, rosa Grapefruit, Kerbel und einem etwas dominanten Vanille-Olivenöl“),
· · Thomas Kammeier vom „Hugos“ in Tiergarten („Der dicke Carabinero ragt in eine kleinteilig aufgebaute Tellerlandschaft von Melonenwürfeln, Limettengel, Orangenzesten und einem Pulver aus Lardo di Colonnata, das es erlaubt, selbst nach Wunsch ein wenig Schmelz hinzuzufügen; am Rand bietet ein kleiner Zitronengras-Drink Erfrischung“),
· · Michael Kempf vom „Facil“ im Tiergarten („Schulter vom Uckermärker Rind mit Schafsjoghurt, Gurke und Stangensellerie, Quinoa und Kürbiskernen als hervorragend balancierte Aromenensembles mit viel Mouthfeeling“),
· · Kolja Kleeberg vom „Vau“ in Mitte („Die Gerichte sind teilweise voller Esprit, manchmal ein wenig zu effekthascherisch wie das ‚Zweierlei von der Jakobsmuschel, Süßkartoffel, Majoran, Limette und Buchenrauch‘. Während man die gebratene Jakobsmuschel aß, lagen die dünnen rohen Tranchen der Muschel mit dicker Majoranschicht sowie Paprika- Brunoise in einer zugedeckten Petrischale im Buchenrauch. Als er aufsteigen durfte, störte er aggressiv den Genuss“),
· · Christian Lohse vom „Fischers Fritz“ in Mitte („Froschschenkel in Aromenbutter mit knackig gegarten Artischocken, Zucchini und Tomaten-Estragoncoulis, die wunderbare Säure ins Spiel brachte“),
· · Marco Müller von der „Rutz-Wein-Bar“ in Mitte („Die Gerichte klingen brav, sind aber durchaus mutig ausgeführt. Wie bei der bretonischen Sardine mit trefflichem Dashi aus Tomate mit Avocado. Ein großartiges Aromenspektakel mit angenehmen Süßtönen und schöner Säure. Der tranige Sardinengeschmack konnte aber nur im Ansatz übertönt werden.“)
Die Tester beschreiben und bewerten dieses Jahr insgesamt 57 Restaurants in Berlin. 48 Küchenchefs zeichnen sie mit einer oder mehreren Kochmützen aus, wofür die Könner am Herd mindestens 13 von 20 möglichen Punkten erreichen müssen, was einem Michelin-Stern nahe kommt. Das schaffen von den neueröffneten oder nach einer Pause wieder bewerteten Restaurants außer „Les Solistes by Pierre Gagnaire“ auch das „Sra Bua“ im „Adlon“ und das „Vivaldi“ im Grunewald (beide 15 Punkte) sowie die Lokale „Altes Zollhaus“ in Kreuzberg, „Bandol sur mer“ in Mitte und „Hessenwinkel“ in Köpenick (jeweils 14 Punkte) sowie „La Soupe Populaire“ in Prenzlauer Berg und „Soya Cosplay“ in Mitte (beide 13 Punkte).
Im Vergleich zur Vorjahresausgabe serviert der wegen seiner strengen Urteile und deren zuweilen sarkastischer Begründung von den Köchen gefürchtete, von den Gourmets mit Spannung erwartete Gault&Millau in der Hauptstadt acht langweilig gewordene Restaurants ab und nimmt zehn neu auf, acht werden höher, neun niedriger bewertet. Drei Küchenchefs verlieren die begehrte Kochmütze. Ferner beschreibt und klassifiziert der Gault&Millau Deutschland 2014 250 Hotels.
Die besten Restaurants des Gault&Millau in Berlin
19 Punkte
Tim Raue in Mitte
18 Punkte
Lorenz Adlon Esszimmer*, Margaux und Reinstoff* in Mitte
17 Punkte
Facil im Tiergarten
First Floor in Charlottenburg
Fischers Fritz in Mitte
Frühsammer in Grunewald
Horváth in Kreuzberg
Hugos in Tiergarten
Rutz-Wein-Bar in Mitte
Vau in Mitte
16 Punkte
Alt-Luxemburg in Charlottenburg
Carmens Restaurant in Eichwalde bei Berlin
Les Solistes by Pierre Gagnaire** in Charlottenburg
Lochner* in Tiergarten
Markus Semmler* in Wilmersdorf
15 Punkte
Bieberbau in Wilmersdorf
Duke* in Charlottenburg
Paris-Moskau* in Tiergarten
Sra Bua by Tim Raue** in Mitte
Vivaldi** im Grunewald
Volt in Kreuzberg