Immer eine Handbreit Wasser unter dem Bühnenboden: Der Kreuzfahrt-Boom ermöglicht es Tausenden jungen Künstlern, Berufserfahrungen auf hoher See zu sammeln.
Plötzlich hebt der Mann im Südwester ab, fliegt über die Köpfe der Zuschauer hinauf zum ersten Rang. Aus dem Bühnenhimmel werden Artisten an langen Stoffbahnen herabgelassen, Hubpodeste bewegen sich blinkend, die Drehbühne kreiselt, spacige Animationen flimmern über riesige LED-Wände, bunte Scheinwerfer rotieren. Tausend Plätze hat das Theater tief im Bauch der „Mein Schiff 3“ – und eine technische Ausstattung, die jeden Stadttheater-Intendanten vor Neid erblassen lässt.
Die Show „Blue Elements“, die heute hier gezeigt wird, hat ein klares Vorbild: die Produktionen des Berliner Friedrichstadtpalastes. Außerdem gibt es eine Deutschrock-Show und eine freche Schlagerparodien-Parade, eine Musicalgala und ein biografisches Stück über die legendären „Comedian Harmonists“. An einem Abend zeigen die Crewmitglieder, was sie außer Kochen und Bettenmachen noch alles draufhaben.
Durch den Kreuzfahrt-Boom hat sich nicht nur die Art verändert, wie man heute auf den schwimmenden Hotels über die Meere reist. Der scheinbar grenzenlos wachsende Markt hat auch ein Jobwunder für Bühnenkünstler aller Genres auf hoher See ausgelöst. Vorbei sind die Zeiten, in denen vor allem gesetzte Herrschaften die Gangway zu den Traumschiffen erklommen und sich in plüschigen Salons von Künstlern unterhalten ließen, die ihre besten Jahre hinter sich hatten. Heute gibt es in den Restaurants weder feste Essenszeiten noch feste Sitzplätze, jeder zieht an, was er mag – und auf der Bühne stehen vor allem Berufsanfänger, die hier Praxiserfahrungen sammeln. Während an den Staats- und Stadttheatern von Jahr zu Jahr der Legitimationsdruck wächst und die Zahl der Planstellen sinkt, explodiert der Personalbedarf bei TUI Cruises geradezu. Fast 1500 Künstler sind pro Jahr auf den sechs Schiffen der Flotte unterwegs.
Binnen vier Monaten treten die Darsteller vor 100000 Zuschauern auf
Denn die Theater auf hoher See werden nach einem ausgeklügelten rotierenden System bespielt. Jedes Entertainment- Team besteht aus rund 30 Tänzern, Sängern, Artisten und Schauspielern. Hinzu kommen zwei Bands, ein klassisches Streichquartett sowie Techniker und Organisatoren. Für zwei bis sechs Monate werden die Verträge vergeben, nach der Probenphase in der Entertainment-Abteilung von TUI Cruises in Berlin haben die Neuankömmlinge auf den Schiffen eine Woche Zeit zum Eingewöhnen. Tagsüber machen sie sich mit den Gegebenheiten auf der Bordbühne vertraut, abends schauen sie den Erfahrenen bei den Shows zu. Binnen vier Monaten treten die Darsteller vor 100 000 Zuschauern auf – das ist an Land nur in Dauerbrenner-Musicals zu schaffen.
„Es kommt an Bord auf zwei Dinge an“, erklärt Steffen Senger, der für die Künstler-Rekrutierung zuständig ist, „Disziplin und Psychologie“. Die Anforderungen sind hart: Wer fast jeden Abend eine andere Aufführung bieten soll, braucht sowohl ein solides Handwerk als auch die Fähigkeit zur Selbstmotivation. Damit die Chose auch nach zehn Wochen noch Spaß macht. „Wenn es dann auch noch mit der Chemie untereinander klappt“, weiß Senger, „entwickelt die Crew eine großartige Eigendynamik.“ So wie auf der „Mein Schiff 3“, wo das Adrenalin allabendlich zu spüren ist.
„An Bord sind die Künstler als Crewmitglieder angestellt“, erklärt Steffen Senger. „Das bedeutet, dass sie neben ihren Auftritten auch noch side duties zu verrichten haben.“ Zum Beispiel als menschliche Wegweiser, die den Passagieren bei der Seenotrettungsübung helfen, die richtige Sammelstation zu finden. Oder als Assistenz-Concierges, die mit anpacken, wenn an den Wechseltagen 2500 Gäste das Kreuzfahrtschiff verlassen und genauso viele neu ankommen. Diese Facette des Jobs erklärt der Casting-Direktor den Bewerbern immer als erstes. Damit sie gleich wissen, worauf sie sich einlassen. Im Crewbereich steht den Künstlern eine fensterlose Einzelkabine zu, wenn sie sich auf den 15 Passagierdecks bewegen, müssen sie ein Namensschild tragen.
Nadja Herzog ist erst mit 29 Schauspielerin geworden
Nadja Herzog weiß das alles schon. Die Schauspielerin hat bereits eine Arbeitsphase auf dem Meer hinter sich. Und sich für diesen Winter gleich noch einmal beworben. Die Fahrten gehen ins östliche Mittelmeer, nach Dubai und Indien. „In den kalten Monaten im Süden unterwegs sein und den Sommer an Land verbringen – das ist doch eine perfekte Kombination!“, findet sie.
Nadja Herzog, das merkt man im Gespräch sofort, ist kein Diven-Typ. Sondern das, was man eine patente Person nennt. Eine, die anpackt, ohne lange zu fragen. Und die sich auch für kleine Rollen nicht zu schade ist. Die Oberfränkin hat in ihrem Leben schon einiges ausprobiert, war Aerobic-Lehrerin, Industriemechanikerin und Masseurin, bevor sie sich mit 29 Jahren dann doch noch für die Bühnenkunst entschied. Während eines Jobs als Animateurin im Robinson-Club hatten ihr Kollegen von den Arbeitsmöglichkeiten auf See vorgeschwärmt. Nadja Herzog zog nach Berlin, lernte die Grundlagen der Schauspielerei an einer privaten Theaterschule und heuerte bei TUI Cruises an.
Einstudiert werden alle Entertainment-Programme für „Mein Schiff“ in Berlin Treptow. In der Bouchéstraße hat TUI Cruises in einem Gewerbekomplex aus den zwanziger Jahren nicht nur 5300 Quadratmeter Büroraum angemietet, sondern gleich noch drei turnhallengroße, übereinander gestapelte Probensäle bauen lassen. Hier wird unter Originalbedingungen trainiert: Markierungen auf dem Boden zeigen die Position der Hubpodien und der Drehbühnenelemente an. Die Etagen heißen Decks, in den Türen gibt es Bullaugen-Fenster. Hinter einem davon sitzen jetzt gerade fünf junge Leute zusammen und haben sichtbar Spaß. Sie proben für das Krimi-Dinner, das an Bord im Gourmetrestaurant Richard’s angeboten wird.
Entertainment als Dessert zum Abendessen
Genau das wollen die Kunden: Entertainment als Dessert zum üppigen Abendessen. Daher beginnen die Theatershows auch erst um 21.30 Uhr. „Das Kulturprogramm steht nicht an erster Stelle in der Prioritätenliste unserer Kunden“, gibt Doreen Kümpel zu, die als General Managerin auf der „Mein Schiff 3“ für den Hotelbetrieb zuständig ist. „Aber wenn wir kein Entertainment hätten, würden die Gäste es einfordern.“
Die Herausforderung besteht für die Macher also darin, niedrigschwellige Angebote zu machen. „Wir sind ein Alles-Inklusive-Wohlfühlschiff“, sagt Kümpel. „Die Gäste wollen sich bei uns erholen, aber sie wollen auch etwas anderes sehen als zu Hause. Das kann dazu führen, dass Menschen, die sonst nie ein Theater betreten, auf dem Schiff Aufführungen anschauen – weil sie ja nichts extra kosten – und hinterher sagen: Das machen wir jetzt auch mal an Land.“
Ob das nun ein frommer Wunsch bleibt oder nicht: Thomas Schmidt-Ott und Wolfram Korr, die Chefs der Arts & Entertainment-Abteilung von TUI Cruises, die beide aus der Hochkultur kommen, ringen trotzdem darum, niveauvolle Unterhaltung auf der Flotte anzubieten. Deshalb sind sie besonders stolz auf das „Klanghaus“, das 250 Gästen Platz bietet und aussieht wie ein echter Konzertsaal. Doch die Holzvertäfelung ist aus Kunststoff und auch die großartige Akustik keine natürliche Angelegenheit.
Dank Computertechnik lässt sich jede gewünschte Nachhallzeit herstellen
Weil so ein Schiff nun einmal nur aus Metall gebaut werden kann, wurde das „Klanghaus“ auf einer speziellen Stahlfederkonstruktion gelagert, die verhindert, dass Vibrationen des Motors oder irgendwelche anderen störenden Geräusche in den Saal dringen. Dank ausgeklügelter Computertechnik lässt sich in dem schalltoten Raum jede gewünschte Nachhallzeit virtuell herstellen: Per Knopfdruck wähnt sich der Hörer wahlweise in einer Kathedrale, einer Sprechtheaterbühne oder eben auch im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie.
Stellprobe für die „Comedian Harmonists“ in Berlin: Zwei Wände des Saals sind verspiegelt, in der Ecke steht eine Chaiselongue im Chippendale-Stil, es gibt ein paar Koffer, Tische und Stühle. Das Grammofon, das später eine wichtige Rolle im Stück spielen wird, fehlt noch, ebenso wie die Tänzer, die auf dem Schiff die Schlager vom „Onkel Bumba aus Kalumba“ oder dem „Kleinen grünen Kaktus“ optisch bereichern werden. Dass die anspruchsvollen Arrangements des berühmten Vokalquintetts vom Band eingespielt werden und die Darsteller nur ihre Lippen synchron dazu bewegen, wird am Abend auf dem Schiff kaum einer im Publikum merken.
Beim „Comedian Harmonists“-Biografical spielt Nadja Herzog eine Hauptrolle, außerdem ist sie die Moderatorin des Musical-Abends, wirkt in der „Blue Elements“-Revue mit, veranstaltet eigene Lesungen, ist Protagonistin im Krimi-Dinner und übernimmt in der Satire „Chili und Schoten“ sämtliche Nebenrollen. Genau diese Vielfalt mag sie. Auch wenn es in den ersten Wochen ganz schön stressig ist.
Geregelte Arbeitszeiten gibt es an Bord nicht. Aber ab der vierten Woche, das weiß Nadja Herzog ja schon, wird es entspannter. Dann ist auch mal ein Landgang drin. „Solange ich single bin, ist das alles kein Problem“, sagt sie. Aber sie weiß auch, dass es schwierig wird, wenn ein Partner an Land zurückbleiben muss. Oder gar die restliche Familie. Bis es soweit ist, hofft Nadja Herzog, hat sie sich als Schauspielerin so weit entwickelt, dass sie auch Engagements mit festem Boden unter den Füßen ergattern kann – in ihrem Traumberuf, den sie auf den letzten Karrieredrücker gefunden hat.