Vor drei Jahren wurde eine junge Schriftstellerin mit einem der angesehensten Preise für deutschsprachige Literatur ausgezeichnet: Katja Petrowskaja. Sie wuchs in Kiew auf und lebt heute in Berlin. Sie gewann den Ingeborg-Bachmann-Preis mit einer Erzählung, die beschreibt, wie ihre Urgroßmutter sich auf den Weg nach Babyn Jar machte und von einem deutschen Besatzungssoldaten auf offener Straße erschossen wurde – heute vor 75 Jahren.
Sie folgte einem Aufruf der Besatzungsbehörden, der in ganz Kiew plakatiert worden war: Alle Juden der Stadt sollten sich mit Dokumenten, Geld- und Wertsachen sowie warmer Kleidung um acht Uhr an den Friedhöfen am Stadtrand einfinden.
Die deutsche Stadtkommandantur drohte bei Zuwiderhandlung mit der Todesstrafe. Doch die alte Dame ließ sich weder von dieser Warnung noch von der Adresse – an den Friedhöfen! – beunruhigen. Sie erwartete von den deutschen Besatzern nichts Böses, jedenfalls nichts lebensbedrohlich Böses.
Die Einzigartigkeit des Verbrechens, dem sie zum Opfer fallen sollte, bestand nicht zuletzt darin, dass fast niemand die Bestialität der Täter und den Zivilisationsbruch, zu dem sie bereit waren, für möglich hielt.
In Babyn Jar zwangen Sonderkommandos, geheime Feldpolizei und Angehörige der Waffen-SS ihre Opfer, sich zu entkleiden, ihre Wertsachen abzugeben, trieben sie mit Schlägen bis an den Rand der Schlucht und erschossen sie, Männer und Frauen, Kinder und Greise, 33.771 Menschen in nur zwei aufeinander folgenden Tagen.
Die Urgroßmutter Katja Petrowskajas ist eines der Opfer, die wir heute hier betrauern. Die Erzählung ihrer Urenkelin ist etwas Besonderes, etwas Kostbares. Sie gibt – Jahrzehnte nach der Tat – einem Opfer Gesicht, Namen und Gestalt zurück. Aus einer Ziffer in einer Todesstatistik wird Esther. Unendlich behutsam geht die Erzählung mit ihr um. Sie begleitet sie auf ihrem Weg, ohne das Ende zu verschweigen. Sie dehnt die Zeit aus, die ihr bleibt. Und sie verweist auf nicht mehr Entzifferbares, nicht mehr Lesbares, auf das Vielleicht.
Wir, die Nachgeborenen und die Hinterbliebenen, sind auch auf Imagination angewiesen, weil wir, um erinnern und trauern zu können, mehr brauchen als Zahlen und Fakten. Weil wir verstehen wollen, wer wir sind, woher wir kommen und wer uns vorausgegangen ist.
Literarische Zeugenschaft, so scheint mir, hat erst die Voraussetzung für unser heutiges Gedenken geschaffen. Sie hat uns – gegen alle Widerstände – die Erinnerung an Babyn Jar abgetrotzt. Und sie hat etwas erreicht, was der Geschichtsschreibung in Deutschland, Russland und der Ukraine bis heute oft nur mühsam gelingen will: Sie eröffnet den Raum für ein gemeinsames Erinnern.
Was wir heute über Babyn Jar wissen, verdanken wir all jenen, die das Nicht-wissen-wollen, das Kleinreden, ja, das Schweigen überwunden haben, zu unterschiedlichen Zeiten, in ihren eigenen Ländern, auf ihre je eigene Art. Einen will ich besonders hervorheben: Jewgenij Jewtuschenko, weil er es war, der 1961 das Tabu brach, mit dem die Sowjetunion den Mord an ihrer jüdischen Bevölkerung belegt hatte.
Babyn Jar ist ein einzigartiger Schreckensort. Bis zum Abzug der Wehrmacht aus Kiew im Dezember 1943 blieb die Schlucht Hinrichtungsstätte. Babyn Jar wurde nicht nur den Kiewer Juden zum Massengrab, sondern auch zehntausenden sowjetischer Kriegsgefangener, psychisch Kranker, Sinti und Roma und Angehöriger der ukrainischen Nationalbewegung.
Sie alle fielen dem nationalsozialistischen Vernichtungswillen zum Opfer – ein Vernichtungswille, der sich mit dem Töten nicht zufriedengab, denn selbst die Erinnerung an sie sollte getilgt werden. Als sich die Rote Armee 1943 Kiew näherte, mussten sowjetische Kriegsgefangene auf deutschen Befehl die Leichname in Babyn Jar ausgraben, verbrennen und ihre aschenen Reste zermahlen. Erst der deutsche Rückzug aus Kiew machte dem Morden und Vertuschen ein Ende.
Hier offenbart sich erneut der verbrecherische Charakter des rasseideologischen Vernichtungskrieges im Osten Europas. Die Verheerungen, die er in der Ukraine hinterließ, waren beispiellos. Die deutschen Besatzer bedienten sich sogar ukrainischer Nationalisten als Hilfspolizisten. Hier wie in den heutigen Nachbarländern der Ukraine ging es dem nationalsozialistischen Regime von Anfang an nicht allein um die Eroberung und Besetzung fremder Staaten, sondern um die Ermordung ganzer Bevölkerungsgruppen.
Wir sprechen von unermesslichem Leid und wir Deutschen von unaussprechlicher Schuld, wenn wir vor dem Abgrund der Shoah stehen. Wenn wir hineinschauen, schwindelt es uns. Wir fürchten, der Abgrund schaue – dem Diktum Nietzsches folgend – auch in uns hinein. Aber wir haben gelernt und werden es nicht vergessen, dass es kein Nachdenken über die deutsche Schuld und die uns gemeinsame Geschichte geben kann, das sich diesen Blick erspart.
Wir schulden ihn den Opfern, wir schulden ihn aber auch der Gegenwart, uns selbst. Man kann die Schlucht zuschütten, wie es mit Babyn Jar buchstäblich versucht worden ist. Die Erinnerung wird sich immer wieder Bahn brechen.
Diesem Gedächtnis Raum zu geben, heißt, an die Menschen zu erinnern, die hier starben, nicht allein an ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einer Religion oder einer Partei. Es heißt, an die Freunde und Nachbarn zu erinnern, die sie auch waren. Unsere Verantwortung liegt darin, aus Zahlen im Tötungsplan des nationalsozialistischen Regimes wieder Menschen, Individuen, zu machen.
In dem Maß, in dem uns das gelingen wird, wird auch das gemeinsame Erinnern möglich sein, das wir brauchen, dringend brauchen, weil die Geschichte, um die es geht, eine gemeinsame ist. Die Menschen, die in Babyn Jar von Deutschen getötet wurden, waren Juden, Ukrainer, Russen und Polen. Wir, die wir verstehen wollen, wie es dazu kommen konnte, dass unsere Väter und Großväter zu Mördern oder zu Opfern wurden, sind heute aufeinander angewiesen. Antworten auf unsere Fragen werden wir nur gemeinsam finden. Dies ist kein Plädoyer für die Verwischung von Verantwortlichkeiten, sondern vielmehr für eine grenzübergreifende, gemeinsame Forschung. Für eine Forschung, die neuerlich modischen Versuchungen widersteht, die Wahrheit durch das Prisma der Nation zu suchen.
In unserem Wissen über den Massenmord an den Juden muss Babyn Jar als Erinnerungsort einen festen Platz haben. Wir verstehen Auschwitz als Symbol für das Töten in den Vernichtungslagern. Babyn Jar steht für das, was dem industriellen Morden vorausging: das abertausendfache Töten durch Erschießen. Zum Blick in den Abgrund unserer eigenen Geschichte gehört das Eingeständnis, dass auch die deutsche Wehrmacht an diesen Verbrechen maßgeblich beteiligt war. Viel zu lange hat es gedauert, bis sich diese Einsicht in Deutschland durchgesetzt hat.
Sich der eigenen Geschichte zu stellen, den genauen Blick auf die Fakten zu wagen, eigener Schuld, eigenem Versagen nicht auszuweichen, ist ein generationsübergreifender Prozess. Er hat Deutschland geprägt und er ist auch so viele Jahre nach dem Krieg nicht abgeschlossen. Im Bewusstsein dessen wenden wir uns immer wieder Opfern zu, die hilflos dem Unrecht, der Not und Verfolgung ausgesetzt waren oder sind. Gerade in diesem Zusammenhang ist es mir wichtig, den Blick auch auf die heutige Ukraine zu richten.
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben uns die Ukrainer daran erinnert, dass sie ihren Platz in der europäischen Geschichte haben. Sie haben uns daran erinnert, dass der Ukraine heute und auch in Zukunft ein Platz in der Familie der Völker zusteht, als souveräne Nation in einem Staat, dessen territoriale Integrität zu achten ist. Wir haben die Ukrainer als streitbar erlebt – streitbar für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und damit als Teil unserer europäischen Wertegemeinschaft. Wir haben viel über die Ukraine als Nation erfahren und dabei manches über unsere eigene Rolle und Verantwortung.
Es mag sein, dass sich im kollektiven Gedächtnis ihrer Nation der Holodomor mit seinen unzähligen Opfern stärker eingegraben hat als das Verbrechen von Babyn Jar – als Deutscher Präsident aber stehe ich hier, immer wieder fassungslos und voller Trauer angesichts der monströsen Verbrechen anderer Deutscher in einer anderen Zeit. Aber da geschieht noch etwas: Der Blick auf das Vergangene qualifiziert meinen Blick auf das Gegenwärtige – indem ich mich vor all den Opfern von einst verneige, stelle ich mich an die Seite all der Menschen, die heute Unrecht benennen, Verfolgten Beistand leisten und unverdrossen für die Rechte der Menschen eintreten, denen die Menschenrechte versagt werden.