Wann prägen sich Spaziergänge mit den kleinsten Geräuschen, den wahrgenommenen Bildern, Düften und Reizen so tief ein, dass sie wiederum andere Bilder assoziieren, Erinnerungen wach rufen Wie oft ergibt man sich der Muße des Flanierens, des sich Zeit Nehmens, um seine Umwelt akribisch wahrzunehmen oder gar zu protokollieren?
Antonio Muñoz Molinas Erzähler in seinem neuen Buch „Gehen allein unter Menschen“ lebt diesen Müßiggang, diesen Luxus, durch Zeiten und Räume zu streifen, und dabei kleinste Details aufzunehmen und zu sichern.
„Ohne anzuhalten durchquerte ich das Dickicht der Stimmen und Gerüche. Gebratenes Fleisch, tierisches Fett, Bratendampf und Tabaksqualm, Garnelenschalen. Unsere Spezialität: Fleisch vom Grill und Lammkoteletts, probieren Sie unseren Reis mit. Es herrscht ein Überfluss an verbaler Saftigkeit, eine Pracht von holländischen Stillleben in der Typografie der Plakate. Kroketten. T-Bone- Steak. Gambas al ajillo. Kutteln auf Madrider Art. Käseplatte. Auberginen im Gewürzsauce. Wolfsbarschfilet nach Bilbao Art. Thunfisch-Empanadas. Paella. Entrcote. Auf den Bürgersteigen von Madrid hat die Juninacht etwas von der großzügigen Gemütlichkeit einer Küstenstadt, in der Familienehre Sommerferien verbringen. Ich schlenderte und lasse mich treiben….°
Durch die Straßen von Madrid, Lissabon, New York und Paris. Ist es die Faszination Großstadt mit all seinen sichtbaren und unsichtbaren Dialogen, in die der Erzähler tritt? Er bewahrt die alltäglichen Kleinigkeiten, Feinheiten in den Geschichten „Im Büro der verlorenen Momente“ (Teil1) und im Teil 2 „Herr Niemand“ auf. Plakatslogans oder O-Töne auf der Straße oder in der U-Bahn werden wichtig, sind Erinnerungen von Begegnungen. „Ich wähle meine Wege nicht danach aus, ob sie die schnellsten sind, sondern danach, ob sie mir etwas bringen. Ich fahre fast nie mit dem Fahrrad und nie im Taxi. Ich gehe zu Fuß oder fahren mit der U-Bahn. Sorgen und Einbildungen gehen im unablässigen Beobachten unter. Ich bin nicht das, was ich denke oder mir vorstelle oder an was ich mich erinnere, sondern das, was mir vor die Augen kommt, was ich höre, ich bin der Spion mit dem Geheimauftrag, alles in mich aufzunehmen, alles einzusammeln.“
Das Telefon bleibt stetiger digitaler Begleiter durch die Streifzüge durch die Straßen der Großstädte. Originaltonaufnahmen oder Diktate hält der Akteur damit akribisch fest, „archiviert“ dann aber alles traditionell mit dem Bleistift.
Es sind die genauen Beobachtungen, die das Buch so interessant machen. Das sich scheinbar Verlieren in Raum und zeit. Bilder entstehen beim Leser. Er glaubt fast, den „Zufluchtsort“ von Edgar Allen Poe besucht zu haben. Es ist keine Auseinandersetzung mit Charles Baudelaire, Walter Benjamin, James Joyce oder Walt Whitmann, wenn der Erzähler von ihnen Anekdoten oder kleine Porträts aufzeigt. Es ist die Faszination ihrer Chraktere, auch die des geschichtlichen Hintergrunds. Der Erzähler entdeckt Schnittstellen zu sich selbst. Überraschend.
Kleine Abschnitte teilen die Erzählungen ein. Die genauen Beschreibungen, Molinas Stärke, nehmen die Leser*innen Absatz für Absatz mit. Das Buch entführt, überwältigt manchmal mit den vielfältigen Szenen und macht aber wieder Lust auf das Eintauchen in die Geschichten aus dem Hier oder der Vergangenheit. Die Einführungssätze der Abschnitte lesen sich wie Headlines für den nächsten Absatz. Sicher sind sie nicht als Zusammenfassung vom Autor gedacht, wecken aber bereits Vorstellungen auf das Kommende. Und das Seite für Seite.
Gehen allein unter Menschen
Antonio Muñoz Molina
2021 | 544 Seiten | Penguin Verlag
ISBN 978-3-641-24414-9
Artikelfoto: © gab