Hesse sieht den Nebel, in den der Zug hineinfährt, Sonne und Blau sind abhanden gekommen. Die Ortsnamen an den Bahnhöfen unentzifferbar.1925. Damals Dampf, heute Diesel und Strom.
Die Regionalbahn durchquert eine wunderschöne Landschaft, den Naturpark Obere Donau, vorbei an der Hohenzollerntrutzburg Sigmaringen, den weißen Mauern von Burg Wildenstein.
Auch heute wieder Nebel aus den Donauniederungen. Die Gespräche werden gedämpfter. Eine Fliege hat ihre Sternstunde, dreht einen Looping, landet auf der Nasenspitze eines Klosterbruders. Unchristliche Notwehr. Dann die Ankunft. Kleinstadt pur. 2 Gleise. 1 Ausgang. Eine schnurgerade Straße in Richtung Altstadt. Rechts Blaubeurens Alibi, die Hermann Hesse Straße. Klein und bescheiden. Bürgerlich, spießig. Hier wartet Georg Hiller. Bürgerlich, belesen. Seinen Hesse hat er noch immer zitierfähig im Kopf.
Es steckt hinter dem Namen Blaubeuren ein Reiz und ein Geheimnis eine Flut von Anklängen, Erinnerungen, Lockungen. Blaubeuren, das war erstens ein liebes, altes schwäbisches Landstädtchen und war der Sitz einer schwäbischen Klosterschule, wie ich selber als Knabe eine besucht hatte. Aber da klang in dem Komplex Blaubeuren noch etwas anderes mit, etwas, das zugleich schwäbisch, poetisch und für mich von außerordentlichem Reize war.
Auch heute noch steckt ein besonderer Reiz hinter dem Namen Blaubeuren. Noch immer schwäbisch, alt, lieb und poetisch. Georg Hiller war 24 Jahre Bürgermeister. Dann spielt die Gesundheit nicht mehr mit, er tritt kürzer, engagiert sich weiter als Landesgeschäftsführer der Freien Wähler. Blaubeuren ist für ihn wirkliche Poesie, Musik. Etwas, was er geschaffen hat. Hiller zeigt der Stadt neue Wege, schafft neue Gewerbegebiete, neue Wohngebiete, neue öffentliche Einrichtungen, verbannt den Schwerverkehr. Heute herrscht eitel Sonnenschein und es gibt Fachwerk vom dem Touristen Träume sind. Georg Hiller geht durch seine Stadt, zeigt stolz auf das Rathaus von 1425, vorbei am Marktbrunnen mit Säule und Löwenfigur, dann die Bürgerhäuser und „Klein Venedig“ am kleinen Flüsschen Aach ohne Gondoliere und Massentauben.
Dafür der „Hohe Wil“ mit seinem steilen Dach, wie eine Sprungschanze aus Fachwerk, Giebeln, Galerien und Schnitzereien. Das Kloster mit der Eliteschule – klare Linien, klares, leuchtendes Weiß, das Dach mit spielerischen Giebeln und Erkern, Fachwerk.
Hier trifft Hesse einen Schulkameraden, hier wohnt er im Anbau des Klosters, hier erfüllt er sich einen Wunsch, die Suche nach dem steinernen Bad im Nonnenhofkeller und der schönen Lau. Für ihn das Wichtigste an Blaubeuren.
Durch eine alte Treppe und ein dämmerndes Vorgewölb führte uns unser Führer in einen hohen, fest und schön gemauerten Keller…. und es enthüllte sich eine dieser gewohnten Rohheiten, nämlich ein zementierter Fleck, noch ziemlich neu, Zementglattstrich, und hier also war das Bad der Lau. Unter diesem verfluchten Zementflecken quoll das geheimnisvolle kühle Wasser, in dem die Schöne geschwommen war, bis an die Brust im Wasser schwebend
der Anblick der Moderne ist grauenhaft. Überall Spinnweben, kein fest und schön gemauerter Keller, verfallene Wände, feucht, schwammig. Der Boden zum Teil aufgerissen, Löcher. Dumpfer Moderduft. Das Loch verdeckt. Kein Wasser drin. Finanzielle Probleme verhindern bisher die Restaurierung eines Kleinods. Dann der Blautopf, den Hesse besucht. Hiller ist gerührt, die Atmosphäre fängt ihn ein. Ein paar Enten quaken, Touristen werden zu Blautopfflüsterern. Eine Lagune, blitzeblau.
Der Name Topf ist die schwäbische Bezeichnung für die unterirdische Quelle. Hiller streicht sich über seinen kleinen grauen Schnauzer, das Blau der Lagune, ein wunderbarer Kontrast zu seinen grau-grünen Augen. Hesse und Hiller – Literatur in freier Natur
Schön und wichtig war unser erster Gang an den Blautopf, unter den Bäumen auf dem märchenhaften Wasser schwamm gelbes Laub, Wehr und Bach voll von Gänsen und Enten, tief im Grunde saß die schöne Lau und lächelte bläulich herauf, einsam und hoffnungslos stand daneben das rührend drollige Denkmal eines früheren Königs. Alles roch nach Heimat, nach Schwäbisch, nach Roggenbrot und Märchen
Kein Duft nach Roggenbrot. Hier und heute riecht es ein wenig nach Essen, ein Restaurant macht gute Geschäfte. Hiller aber spürt das Schwäbische, die Heimat. Roggenbrot ist überall und das Märchen von der Lau, Eduard Mörikes Fantasieprodukt, ist Gegenwart. Ein Ort, wie Hiller sagt, der Ruhe verbreitet, der nachdenklich macht. Laub schwimmt auf Blau, zaubert märchenhafte Formen. Am Ufer eine Bühne, Freilicht fürs Theater und die Fantasie. Hesse fährt weiter mit dem Zug nach Ulm Wir reisen mit der Fantasie, unterirdisch mit der Blau
vorbei an gewaltigen prähistorischen Höhlen und Gebilden zur nächsten Station. Auftauchen in Ulm, der Heimatstadt von Einstein und der Geschwister Scholl, Ort spannender Architektur, pittoresker Winkel und experimentierfreudiger Kultur .Federleichte Lebensfreude, verkörpert durch Bernd Weltin, dem Schriftsteller und Kabarettisten, dem Flugfisch. Ungewöhnliche Laute von ihm:
Zitti kitillabi billabi billabi zikko di zakkobam fisch kitti bisch bumbalo bumbalo bumbalo bambo zitti kitillabi zack hitti zopp
Ein Gedicht von Hugo Ball, einem Schweizer, Freund von Hesse, Begründer des Dadaismus. Hesse vermisst ihn auf seiner Nürnberger Reise, kann sich damals aber an den verrückten Sprachschöpfungen erfreuen, genau so wie der Besucher der Gegenwart.
Nur Bernd Weltin weiß, wie Flugfische und Seepferdchen nach Ulm kommen. Ein Gedicht, nachdem sich eine Ulmer Gruppe benannt hat, die Literatur aus unterschiedlichen Zeiten auf etwas ungewöhnliche Weise präsentiert. Ein paar Leute bleiben stehen. Ungewöhnliche Töne, hier an der sanften Blau, die vorbeifließt an schiefen, krummen Häusern, Fachwerk vom Feinsten, Trauerweiden voller Sehnsucht zum Wasser.
Ein zweiter Kunstgenuss hier jetzt nach Hugo Ball, nämlich Hesse, seine Nürnberger Reise und die Station Ulm.
Nicht vergessen hatte ich diese außerordentlich schöne und originelle Stadt und den Metzgerturm, auch nicht den Münsterchor und das Rathaus, all diese Bilder stießen in mir auf ihre Erinnerungsbilder und wichen wenig von ihnen ab; dafür waren ungezählte neue Bilder da, die ich sah, als sei es das erstemal, uralte schief eingesunkene Fischerhäuser im dunklen Wasser stehend, kleine Zwergenhäuser auf dem Stadtwall, stolze Bürgerhäuser in den Gassen, hier ein origineller Giebel, da ein edles Portal.
Hesse fühlt sich hier wohl, Weltin empfindet ebenso, gerade als Hamburger. Hesse reflektiert viel über Vorlesen, Eitelkeiten, Literatur und Publikum. Hier im Ulmer Museum fühlt er sich zu Hause, ist in Schwaben. Hier ist er versöhnt mit den Sünden moderner Architektur. Der alte Marktplatz, prachtvolle Bürgerhäuser, viel Geschichte auf dem Buckel, weiße Wände, Fenster wie Zinnsoldaten in Reih und Mauer. Vor dem Eingang zum Museum ein modernes Zeltdach, wie ein Flügel. Architektur als Sprache der Moderne.
Für Weltin ist das der Versuch, eine neue Sprache zu finden in alter Umgebung. Die neue Mitte, ein architektonisches Meisterwerk, von Städteplanern in den Himmel gelobt. Die Zentralbibliothek in einer Glaspyramide, der gleißend weiße Rundbau des Stadtbaus und Münstertor und Rathausarkaden, scharfe Kanten, ein Eisberg der Gegenwart. Das Münster daneben fühlt sich sichtlich wohl, gewaltige gotische Zisilierkunst.
Der Brunnen am Rand, rostbraun, grau. Löwen in Gold, ein paar Münzen, Blumenkästen. Und dann immer wieder die weiße, pure Betonhäßlichkeit. Firmenschilder der Moderne: Fit durch Schwingungen, Life Style Haus. Ulm und Neu Ulm- immer höher, moderner, trendiger. Hesse erträgt das nur mit Zynismus, mit Lachen, mit Nichternstnehmen der Wirklichkeit, mit dem beständigen Wissen um ihre Zerstörbarkeit. Die Lesung im Museum ist ein Erfolg. Aufbruch nach Nürnberg . Dann dieser Bahnhof, wie alle: diese dreckigen und finsteren Hallen, wie er schreibt, ängstliche Menschen, der Mann mit dem Klemmer auf der Nase, der seine Karten einsammelt. Nicht ernst nehmen. Für Weltin, als Leser der Reise, aber eine ernste Wahrnehmung und Erinnerung. Fragen, die das Selbstverständnis der Städte von heute angeht.6 Wochen ist Hesse jetzt schon unterwegs, fühlt Reisemüdigkeit, dummen Heroismus, die Stimmung ist im Keller. Es ist ein trüber Tag, Schnee, Regen. Für Hesse bedrückend und ängstigend, bald Spitzbergen und der Nordpol, so sein Gefühl. Im Zug trifft der Dichter der Vergangenheit auf eine Schweizer Schriftstellerin von heute – Hesses Text ist lebendige Gegenwart.
Ich fuhr an einem trüben Tag, Schnee und Regen durcheinander, fuhr wieder an Augsburg vorbei, sah über der Stadt die Kathedrale und St. Moritz ragen, dann kamen unbekannte Gegenden, und auf der letzten Strecke begann eine wilde, rauhe, menschenlose und großartige Landschaft mit großen Föhrenwäldern, deren Wipfel der Schneesturm schüttelte. Es war schön und geheimnisvoll, aber es war für mich Südländer auch bedrückend und ängstigend. Wenn ich nun so weiterführe, dachte ich mir, dann kämen wohl immer mehr Föhren, und immer mehr Schnee, und dann etwas Leipzig oder Berlin, und dann bald Spitzbergen und der Nordpol
Nürnberg kleckert nicht, Nürnberg klotzt. Die hoch aufragende Burg, die Kirchen mit den Meisterwerken von Veit Stoß oder Adam Kraft, das fränkische Bier und der Alltag mit den „Bemmerleins“, den „Schönleins“, den „Kleinleins“. Konjunktive und Kleinheit, die Lieblinge der Nürnberger. „Stölzlein“ sind sie schon auf ihre schönste Großstadt der Welt.
Madeleine Weishaupt, die Schriftstellerin aus der Schweiz, geht über den chaotischen Bahnhofsplatz
Lärm, Abgase, Blechlawinen. Die Königstorstrasse eine mehrspurige Rennstrecke. Hier am Eingang zur Altstadt, liegt das gewaltige Künstlerhaus, steht für Kunst, Kultur, Kino und Kommunikation. 6500m², über 200000 Besucher im Jahr: Medienläden, Computergruppen, Filmfestivals, der Werkbund, das Filmhaus, offene Werkstäten, Musikverein
schließlich : das Künstlercafe Kulturwirtschaft, Ort der Nürnberger Mittagslesungen. 45 Minuten Lesung von bekannten oder unbekannten Autoren , eine kurze Diskussion. Literatur als Normalität im Alltag. Ein Riesenerfolg im schönen Ambiente: ein rotes Ledersofa in holzvertäfelter Nische, prächtige Wandtäfelungen, eine schwere Holzdecke – dunkel, gediegen, dazu elegante weiß eingedeckte Tische. „Durch gemeinsam edles Streben blüh uns teutsches Künstlerleben“ steht seit 1910 an der Wand. Hesse lernt den Ort der Mittagslesungen nicht kennen, liest im Literatur Verein, erlebt aber Freundlichkeit. Aufatmen nach der letzten Lesung, im Hotel dann eine überheizte Dampfheizung, das Fenster geschlossen, der Straßenlärm bringt ihn um den Schlaf. „Menschen, warum quälet ihr mich denn so“, notiert er und dann weiter
Ich sah alles nur noch in die Auspuffgase dieser verfluchten Maschinen gehüllt, alles unterwühlt, alles vibrierend von einem Leben, das ich nicht als menschlich, nur als teuflisch empfinden kann, alles bereit zu sterben, bereit zu Staub zu werden, sehnsüchtig nach Einsturz und Untergang, angeekelt von dieser Welt, müde des Dastehens ohne Zweck, des Schönseins ohne Seele.
Madeleine Weishaupt liest den Text sehr nachdenklich. Um uns herum die Phonstärken der Moderne , die PS Fetischisten, Abgasliebhaber, knatternde Elemente. Hesse ist darüber verzweifelt. Die Schweizer Schriftstellerin zwischen Zustimmung und Zweifel. Sie braucht die Hektik und den Lärm nicht, sehnt sich doch eher nach Nischen in der Architektur, der Natur, im Leben. Auf der Suche nach etwas Ruhe, nach einer kleinen Oase. Madeleine Weishaupt geht durch das kafkaeske Kulturzentrum in den Innenhof – ein wunderschöner Biergarten. Naturlandschaft, ungeordnetes Platzangebot. Nachdenken über die Nürnberger Reise und die Gegenwart. Im Augenblick etwas Fremdes, nichts Aktuelles. Irgendwann dann aber die Erinnerung, und dann wird sie vielleicht sagen „ja, genau so habe ich Nürnberg auch erlebt, einfach in einer anderen Zeit“.
Die kleine runde Brille muss geputzt werden,wird aufgesetzt, die graue Löwenmähne durchgeschüttelt und die Begegnung mit einem anderen Nürnberg, als bei Hesse: hier im Garten die fiktive Metropole, ein Kunstprojekt aus NürnBErg, FürTH und ERLANGen: Betherlang. Dazu passt jetzt die Bethangske, eine moslemtaugliche Nürnberger aus purem Kalb, multikulturell gewürzt mit Curcuma, Koriander, Chili und Zitronenschale.3 Stück mit Kartoffelsalat für 6.50.