Der Friedrich-Luft-Preis, benannt nach dem bedeutenden Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft ist ein von der Tageszeitung Berliner Morgenpost seit 1992 verliehener Theaterpreis. Er würdigt jährlich die beste Berliner und Brandenburger Theateraufführung, die von einer siebenköpfigen Jury bestimmt wird, und ist derzeit mit 7.500 Euro dotiert. Aspekte-Redakteurin Luzia Braun, Schriftsteller Thomas Brussig, der Gründungsintendant des Deutschlandradios Ernst Elitz, Schauspielerin Martina Gedeck, Berliner Morgenpost-Kulturredakteur Stefan Kirschner, die frühere Präsidentin des Goethe-Instituts Jutta Limbach, Theaterkritiker Martin Linzer und Schauspielerin Claudia Wiedemer gehören der Jury an.
Wer gestern abend in der Schaubühne dabei war hatte ‚Schwein‘ – in jeder Beziehung: die schweinerne Hälfte auf der Bühne, die Erkenntnis, was ‚ Schwein gehabt‘ bedeutet, und ‚ Schwein gehabt‘ , diese wunderbare, intelligente, drastische und doch filigrane Inszenierung erlebt zu haben. Ostermeier hat einen Shakespeare inszeniert, der das Ursprüngliche anrührend vermittelt und das Gegenwärtige drastisch und plakativ demonstriert: Macht, Politik, Intrige, Manipulation. Wie ist doch ein Shakespeare, inszeniert von Könnerhand, hochaktuell. Das Spiel, ein Hochgenuss, die Sprache – durch die Neuübersetzung von Marius von Mayenburg – litrarisches Vergnügen, das Ensemble in Hochform: ein Gerd Voss, der für mich beste deutschsprachige Schauspieler, der allein mit einem Fingerzeig Schauspielgeschichte schreibt, ein Lars Eidinger, dessen Körpersprache elektrisiert, eine Jenny König, die in ihrer Anmut atemberaubend ist. Ein großer Abend . Dann der Abschluss : die Laudatio von Aspekte Redakteurin Luzia Braun – ein würdiger, wichtiger, intelligenter Schlusspunkt.
„Meine Lüge wiegt mehr als deine Wahrheit“
„Jedes Mal, wenn sich die Jury trifft, um über die beste Berliner und Potsdamer Inszenierung zu entscheiden, taucht beim assoziativen Durchlauf der nominierten Stücke die Frage auf: Was bleibt von einem Theaterabend?
Im Fall von „Maß für Maß“ bleibt viel: das Bild der jungen Novizin, die vor dem mächtigen Mann kniet und um das Leben ihres Bruders bettelt, die Fratze des sittenstrengen Angelo, die Lust des Herzogs an seinem Menschenexperiment, die goldene Bühnen-Schachtel, die himmlischen Gesänge, die immer reiner klingen, je mehr der irdische Saustall verkommt. Aber nichts brennt sich so ein wie dieser eine Satz: „Meine Lüge wiegt mehr als deine Wahrheit“ – der zentrale, der schmerzhafte, der wichtigste Satz in dieser Inszenierung. Sieben Worte und schon sind wir angekommen in unserer Welt, unserer Stadt. Auch heute kann, wer das meiste Geld, die größte Macht hinter sich vereint, „Recht und Unrecht am eigenen Appetit festmachen „, – wie es in der glasklaren Neu-Übersetzung von Marius von Mayenburg heißt.
Wie gut zu böse wird
Shakespeares „Maß für Maß“ ist ein Stück über Manipulation im großen Stil. Es zeigt, wie gut zu böse wird und umgekehrt, wie jeder den andern instrumentalisiert, um seine Wahrheit in ein besseres Licht zu stellen und die eigenen Interessen durchzusetzen. Ein Stück über den Sieg des Scheins über das Sein.
In aller Konsequenz begriffen hat das der Herzog, der die Kunst der Verstellung und Intrige meisterhaft beherrscht. Der Statthalter Angelo hingegen will mehr als nur scheinen. Er, der Tugendwächter im Aufsteiger-Outfit, ist auf der Suche nach stärkeren Kräften als Blendung. Nach dem reinen Ideal. Er glaubt, das System erneuern zu können. Aber das Abspritzen der Wände ist keine echte Alchemie. Das Gold bleibt Folie, der Kasten zu. Ein geschlossenes System, in dem alle gefangen sind.
Brücken in die Gegenwart
Die Einzige, die eine Instanz außerhalb des goldenen Käfigs anstrebt, ist Isabella. Als Angelo der jungen Novizin begegnet, erkennt er, dass sie längst das lebt, was er gerne durchsetzen möchte. Sein Ideal bekommt ein Gesicht. In diesem Augenblick offenbart sich seine Einsamkeit und er wird angreifbar. Erschüttert. Alles, was jahrelang der Idee untergeordnet wurde, bricht sich plötzlich Bahn. Auch die Lust. Einer der intensivsten Momente an diesem Abend: wie er hinter ihr steht und die Luft anfängt zu brennen, weil beide spüren, wie stark die Kräfte der Körper sind. Und wie leicht sie kippen können in Gewalt.
Sex gegen Leben. Ein patriarchalischer Deal. Doppel-Moral, sexuelle Erpressung, Amtsmissbrauch – klingt alles vertraut. Federleicht schafft es die Inszenierung, Assoziations-Brücken in die Gegenwart zu schlagen. Hat nicht ein italienischer Politiker mit Libidoproblemen, dem jetzt der Prozess gemacht wird, jahrelang „Schwein gehabt“?
Parallele zu Strauss-Kahn
„Wer wird Dir glauben“, verhöhnt Angelo Isabella, die seine miesen Absichten in die Welt schreien will. „Meine Autorität verströmt so viel Glaubwürdigkeit, dass an ihr jede Unterstellung abprallt und den Verleumder selbst vernichtet.“ Nicht zufällig fällt einem bei dieser Geschichte Strauss-Kahn ein. Als in der Jurysitzung dieser Vergleich auftauchte, nahm das Gespräch eine kuriose Wende. „Wie kann ein dahergelaufenes Zimmermädchen den IWF Chef, einen Mann in einer so verantwortlichen Positionen, derart dreist anklagen?“ empörte sich ein Kollege. Diese Frage wiederum empörte die Frauen in der Runde und schon waren wir mittendrin in einer hitzigen Diskussion über Sexismus, Status, Recht und Gerechtigkeit. Über Macht und Ohnmacht dessen, der spricht, gehört oder nicht gehört wird.
Die Bedrohung bleibt
Was kann, was will Theater mehr, als das Spiel weitertreiben im Kopf der Zuschauer? Es ist die große Leistung dieses Ensembles, uns die unterschiedlichen Wahrheiten ihrer Figuren, ihre Nöte nahe zu bringen, den Zuschauer immer wieder mit zu nehmen in die verschiedenen Perspektiven. Thomas Ostermeier und seinem Team gelingt es, zu erschüttern, zu beleben, ein Kribbeln auszulösen im Hirn und im Herzen. Die Inszenierung entfaltet einen Sog tief in die Geschehnisse hinein, Spannung, Empathie, Witz, alles dabei. Und doch bleibt die Bedrohung bestehen, wenn der Applaus verklungen ist. Verraten haben alle das, woran sie zu glauben vorgeben. Nur die Macht bleibt sich selbst treu und gestaltet allein.
Nicht zuletzt ist „Maß für Maß“ ein Stück, das zeigt, wie Politik geht. Wie der Politiker die Lüge benutzt, um die Wahrheit zu vertuschen. Anders der Künstler. Die Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt, wie Picasso mal sagte.
Künstler machen Geschehen erlebbar
Für eine Gesellschaft, in der der Einzelne so wenig Zugang zur Wahrheit des nächsten Menschen hat, ist die Arbeit von Künstlern existenziell wichtig. Denn Künstler beobachten das Geschehen nicht nur genau, sie haben auch die Mittel, es erlebbar zu machen – wie wir heute Abend einmal mehr erfahren durften. In diesem Sinne: Danke an Thomas Ostermeier für seinen Instinkt, Berlin, das ja auch von einem Gestaltungsmonopol aus Geld und Macht regiert wird, mit dieser Inszenierung zu beschenken und Danke an alle, die mit ihrer Leidenschaft, ihrem Können und Einsatz dazu beigetragen haben.“
Quelle: Berliner Morgenpost