Ein Held wollte er nie sein. Doch die historischen Umstände machten ihn dazu: Anfang Oktober 1989, als er im westdeutschen Fernsehen offen sagte, er schäme sich für das Vorgehen der DDR-Sicherheitskräfte. Und dann eine Woche später, als er den Aufruf «Keine Gewalt!» mit unterzeichnete, der entscheidend dazu beitrug, ein grosses Blutvergiessen bei den Leipziger Montags-Demonstrationen gegen die Politik der SED zu verhindern. Zum Staatspräsidenten einer geläuterten und demokratisierten DDR wollte man ihn nach 1989 küren, gar zum gesamtdeutschen Bundespräsidenten. Er war in vielerlei Hinsicht der Dirigent der deutsch-deutschen Wende.
Kümmerer und Initiator
Das war im Jahr 1970, als er nach Leipzig kam, noch ganz anders gewesen, da wurde er mit Skepsis empfangen. «Gewandhauskapellmeister» war der so schlichte wie verpflichtende und von ihm immer als Ehre empfundene Titel. Den Dirigenten Vaclav Neumann, der zwei Jahre zuvor das Leipziger Orchester aus Protest gegen den Einmarsch der DDR in die CSSR verlassen hatte, sollte er beerben. Er galt – nach künstlerischen Stationen in Halle, Dresden, Schwerin – als guter Orchester-Pädagoge. 1960 bis 1964 diente er Walter Felsenstein an dessen Komischen Oper in Ost-Berlin. Und wenn ihm auch bald bewusst wurde, dass er hier als musikalischer Leiter immer nur die zweite Geige spielen könnte – er lernte, wie man ein Haus führt: durch ständige Präsenz, durch Sich-Kümmern um jede Einzelheit und jeden Einzelnen, von früh bis abends spät.
So führte er dann auch das Gewandhaus. Er kümmerte sich um den Fortgang des Neubaus, den zu errichten er die DDR-Oberen überreden und den er 1981 mit dem alten Spruch im Orgelprospekt eröffnen konnte: «Res severa verum gaudium» («Nur Ernsthaftigkeit schafft wahre Freude») – das war ein Leitsatz, der durchaus auch über dem künstlerischen Wirken Masurs stehen konnte.
Zwischen Leipzig und New York
Geboren am 18. Juli 1927 im schlesischen Brieg (Brzeg) als Sohn eines Ingenieurs, lernte Kurt Masur zuerst Elektrotechnik, studierte daneben aber in der Breslauer Musikschule; den Sinn fürs Praktische bewahrte er sich immer. Sein Hochschulstudium setzte er nach dem Krieg fort in Leipzig. Für das Erbe von Felix Mendelssohn Bartholdy, des Leipziger Konservatoriums-Gründers und seines bedeutendsten Vorgängers im Amt des Gewandhauskapellmeisters, focht er immer.
1991 gründete er eine Mendelssohn-Stiftung, die Mendelssohns kosmopolitischen Geist weiter tragen, das als Museum restaurierte Wohnhaus in Leipzig unterhalten und junge Musiker und Wissenschaftler unterstützen sollte. Die Gewandhauskapellmeister Arthur Nikisch, Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter waren seine weiteren Vorbilder.
«Leadership» – Führungskraft, Beharrlichkeit, Durchsetzungsfähigkeit gegen grösste Widerstände, das war es, was die Chefs der New Yorker Philharmoniker suchten, als sie ihn 1991 zum Musikdirektor beriefen. Bekannt in Amerika war Masur seit seinem USA-Debüt beim Cleveland Orchestra 1974. Immer wieder gastierte er in Amerika, sowohl bei den grossen amerikanischen Orchestern wie auch auf Gastspielen mit dem Gewandhausorchester. Bis 1996 pendelte Masur zwischen Leipzig und New York.
Bei seinem Abschlusskonzert in Leipzig wurde er zum Ehrendirigenten ernannt, als erster in der 250-jährigen Geschichte des Orchesters. Auch in New York wurde er sechs Jahre später, 2002, mit dem Titel eines Ehrenmusikdirektors verabschiedet – wie vor ihm nur Leonard Bernstein. Masur hatte das schlingernde New Yorker Orchester in der Stadt neu verankert, zumal auch das jüngere Publikum zu interessieren vermocht.
Schon im Jahr 2000 hatte Masur zusätzlich zu dem New Yorker Job dauch noch den Posten eines Chefdirigenten beim London Philharmonic übernommen, 2002 zudem beim Orchestre National de France. Anlässlich seines 80. Geburtstags lud er beide Orchester ein zu einem Gross-Konzert in der Londoner Royal Albert Hall.
Musikalischer Kosmos
Masurs individueller Dirigierstil – ohne Stab und mit eher engen Körperbewegungen – resultierte aus einer Verletzung bei einem Autounfall. Sein Klangideal war und blieb jener homogen-dunkle Klang, den das Gewandhausorchester pflegte. Masur konnte Musiker durch seine Dickköpfigkeit beeindrucken, durch seinen Humor überzeugen, Studenten animieren. Mendelssohn, Schumann, Tschaikowsky, Bruckner, Mahler und immer wieder Beethoven – das war sein musikalischer Kosmos.
Nach der politischen Wende von 1989 meinte er einmal in einem privaten Gespräch, nun könne man endlich wieder mit vollem Herzen Beethoven spielen – die Neunte gehörte zu seinen Lieblings-Sinfonien. Zu einem geplanten Dirigat von Schumanns vernachlässigtem Bühnenwerk «Genoveva» in der Leipziger Oper kam es leider nie. In späteren Jahren widmete er sich vermehrt auch der Musik von Dmitri Schostakowitsch, und immer wieder brachte er Werke seines Komponisten-Freundes Siegfried Matthus zur Uraufführung.
Unzählig sind die Ehrungen, die Masur überall in der Welt erhielt. Er war Ehrendirigent des Israel Philharmonic Orchestra, Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Brzeg und natürlich auch von Leipzig, Träger von zahlreichen Auszeichnungen, darunter des höchsten deutschen Verdienstordens. Über hundert Schallplatten hat er aufgenommen – ein Erbe, das zumindest in Teilen bleiben und auch seinen künstlerischen Nachruhm sichern dürfte.
Im Jahr 2012 machte Masur seine Parkinson-Erkrankung öffentlich. Immer wieder musste er in der Folge Konzerte nach Unfällen und Stürzen absagen; doch Masur blieb bis zuletzt aktiv. Noch im vergangenen Jahr gab er nach 18 Jahren Pause wieder ein Konzert in Berlin. Am 19. Dezember ist Kurt Masur im Alter von 88 Jahren in Greenwich, Connecticut, verstorben.