aus: der Tagesspiegel 30.8.2015
Selbst Angela Merkel war von ihm beeindruckt. Neil MacGregor ist ein viel geehrter und viel beschäftigter Mann. Am 1. Oktober tritt er die Gründungsintendanz für das Berliner Humboldt-Forum an, bis Ende des Jahres ist der 1946 geborene Schotte noch Direktor des British Museum in London, in Mumbai soll er ein neues Museum der Weltkulturen mit aufbauen. Er hat ein Buch über Shakespeare und „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ geschrieben. In Kürze erscheint sein neuer Band „Deutschland. Erinnerungen einer Nation.“. MacGregor wurde jetzt in Weimar, zum Geburtstag des Dichters, mit der Goethe-Medaille des Goethe-Instituts ausgezeichnet, zusammen mit dem syrischen Philosoph Sadik al Azm, der in Berlin im Exil lebt, und der Theaterdirektorin Eva Sopher aus Porto Alegre. Die heute 92-Jährige floh Mitte der dreißiger Jahre vor den Nazis nach Brasilien. Ihr Geburtsort, wie der Goethes, ist Frankfurt am Main. Wir drucken MacGregors Rede zur Goethe-Medaille leicht gekürzt. Er schrieb und hielt sie auf Deutsch.
Dank der „Faust“-Dichtung wissen wir alle, wie gefährlich es eigentlich wäre zu behaupten, dass ich jetzt den höchsten Augenblick genieße. Es wäre auch, und das ohne Unhöflichkeit, nicht wahr. Weil meine Freude tatsächlich dadurch gemildert, ja verringert wird, dass ich eine Rede auf Deutsch halten muss.
Wenn man Deutsch als Ausländer lernt, im Goethe-Institut zum Beispiel, dann wird man sehr schnell von dem Reichtum, dem bodenlosen, unauslotbaren Reichtum des deutschen Wortschatzes überrascht, besser gesagt: überwältigt. In den Werken von Goethe, erfährt man, seien fast zwei Mal so viele Wörter zu zählen wie bei Shakespeare. Dank einem so üppigen, wuchernden Lexikon, ahnt neidisch der Ausländer, müssen Deutschsprecher eine komplexere, differenziertere, letzten Endes intensivere Welt als andere erleben und genießen können.
Ein Beispiel. Wenn wir uns – auf Englisch – freuen wollen, dann sind wir ganz einfach happy, im äußersten Fall very happy. Wenn ich aber Deutscher wäre und eine gute Nachricht bekäme, dann könnte ich nicht nur mich freuen, sondern auch frohlocken, jubeln, jauchzen, jubilieren. Und weil ich ein bisschen Deutsch studiert habe: Als ich die überraschende Nachricht empfing, dass man mir die Goethe-Medaille zuerkannt hatte, so war ich nicht nur, auf Englisch, extremely happy, sondern konnte auch, als ohnehin Germanophiler, frohlocken, jubeln, jauchzen und jubilieren.
Am 28. August, vor 252 Jahren, erhielt Goethe zu seinem vierten Geburtstag das lebensbestimmende Geschenk eines Puppentheaters. Sein Entzücken darüber ist bekannt, kann aber nicht größer gewesen sein als das, was ich heute empfinde. Vor einigen Wochen bekam ich vom Goethe-Institut einen Fragebogen. Darauf stand: Wen würden Sie für die Goethe-Medaille vorschlagen? Ich habe sofort geantwortet: Christopher Clark, Autor der „Schlafwandler“. Ich habe mich aber auch gefragt, wen hätte Goethe selbst für seine Medaille vorgeschlagen?
Zuerst hatte ich die für einen Briten bestürzende Idee, der Preisträger wäre vielleicht Napoleon gewesen. In Erfurt, am 2. Oktober 1808, hätte Goethe persönlich dem selbst ernannten Kaiser die Medaille verleihen können. Goethe und Napoleon: ein Zeichen, dass es schon damals in Europa zwei Grandes Nations gab. Aber ohne Nationalstolz glaube ich behaupten zu dürfen, dass Goethe, vom Zwang aller chronologischen Betrachtungen befreit, ohne Zögern Shakespeare zu seinem Medaillenträger gewählt hätte. „Die erste Seite, dich ich in ihm las“, schrieb Goethe 1771, „machte mich auf Zeitlebens ihm eigen. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, dass ich Hände und Füße hatte. Natur, Natur, nichts so Natur als Shakespeares Menschen.“ Und weiter noch: „Shakespeare, mein Freund, wenn du noch unter uns wärest, ich könnte nirgend leben als mit dir. Wie gern wollt’ ich die Nebenrolle eines Pylades spielen, wenn du Orest wärst.“
Es gab etwas bei Shakespeare, das Goethe erlaubte, seine eigenen Ideen und Ideale ganz unmittelbar wahrzunehmen. Shakespeare ließ Goethe erkennen, dass es eine Sprache gibt, mit der sich tiefe Gedanken und ungekünstelte Gefühle ausdrücken lassen. Beim englischen Dichter erfuhr er, wie er dem Deutschsein eine authentische Stimme geben konnte.
Und genau das ist bei Goethe für mich das Inspirierende. Er wusste in allen Traditionen – englisch, persisch, griechisch, indisch – Einsicht und Weisheit zu schöpfen. In seinem Haus am Weimarer Frauenplan wurden Pflanzen und Mineralien, Kunstwerke und Gipsabgüsse aus allen Ländern gesammelt. Die Welt unter einem Dach, auf dass sie studiert werde und erfasst. Und gerade diese intellektuelle Weltoffenheit erlaubte ihm, die Personifikation des höchsten deutschen Geistes zu sein. Nichts war ihm fremd:
Herrlich ist der Orient
Übers Mittelmeer gedrungen;
Nur wer Hafis liebt und kennt,
Weiß, was Calderón gesungen.
Europa kann zur Selbstkenntnis kommen nur, wenn es das Außereuropäische studiert und sich zu eigen macht. Für ein Europa, in dem Fremdenhass und Nationalismus wieder zu großen gesellschaftlichen Gefahren geworden sind, bleibt Goethe für uns alle musterhaft und nötig.
Shakespeares Globe Theatre wurde so genannt, weil die Londoner auf jener Bühne die ganze Welt entdecken, die ganze Menschheit kennenlernen sollten. Als Theatrum Mundi sollte es wirken, genau wie Goethes Hausmuseum am Frauenplan, sein British Museum.
„All the world’s a stage“ – die ganze Welt ist eine Bühne. „And all the men and women merely players/And one man in his time plays many parts“ – „und jeder spielt in seinem Leben viele Rollen“, heißt es bei Shakespeare. Die Frage bleibt immer dieselbe. Welche Rolle möchten wir, sollen wir in diesem Theatrum Mundi, diesem Puppentheater der Welt spielen?
In welcher Shakespeare-Rolle würde Klaus-Dieter Lehmann, der Präsident des Goethe-Instituts (und davor Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz) am besten auftreten? Man kann weder zweifeln noch zögern. Er wäre Prospero. Im „Sturm“ weiß Prospero seine kleine Insel durch seine magischen Kräfte neu zu gestalten. Dank seinem Zauber werden neue Visionen, neue Welten hervorgerufen. Das hat Klaus-Dieter Lehmann auf seiner Insel, der Museumsinsel in Berlin, getan. Er hat nicht nur die Insel, sondern eine ganze Stadt bezaubert, er hat dort eine neue Welt hervorgerufen, die für uns alle allmählich sichtbar wird und die Humboldt-Forum heißt.
Als Theatrum Mundi, Theater der Welt, soll die ganze Menschheit dort als Schauspieler, aber auch als Dichter auftreten. Es geht tatsächlich, in den berühmten Worten von Prosperos Tochter Miranda, um „A brave new world“. Hoffentlich werden wir es vermögen, diese Zaubervision zu verwirklichen.