Der Parsifal-Dirigent Andris Nelsons schmeißt drei Wochen vor der Premiere in Bayreuth hin. Jetzt wird über die Gründe spekuliert.
Von Michael Stallknecht
Nähert man sich in diesen Tagen dem Bayreuther Festspielhaus, dann dringen Wagner’sche Klänge durch alle Ritzen. Es wird überall geprobt, die Festspiele sollen am 25. Juli mit dem „Parsifal“ eröffnen. Aus dem Festspielrestaurant hört man leise den „Ring des Nibelungen“, durchs Fenster sieht man Christian Thielemann sitzen. Thielemann im „Ring“, der in diesem Jahr unter der Leitung von Marek Janowski steht? Möglich, dass diese Beobachtung viel zu tun hat mit dem Skandal, der die Festspiele gerade ereilt hat. Denn bei der Eröffnung fehlen wird derjenige, der sie eigentlich dirigieren sollte: der lettische Dirigent Andris Nelsons.
„Mit dem allerhöchsten Respekt vor dem Management und dem Team der Bayreuther Festspiele, dem Regisseur und seinem Team, den Assistenzdirigenten, der gesamten Besetzung, dem Orchester und Chor“ habe er die Festspielleitung und Geschäftsführung der Bayreuther Festspiele um die Auflösung seines Vertrags für die Neuinszenierung gebeten, ließ Nelsons am Donnerstag mitteilen. „Eine unterschiedlichen Herangehensweise in verschiedenen Hinsichten, hat sich die Atmosphäre der diesjährigen Bayreuther Festspiele nicht in einem für alle Parteien untereinander annehmbaren Weg entwickelt.“
Andris Nelsons ist auf dem Grünen Hügel kein Unbekannter. In den Jahren 2010 bis 2014 hat er hier den „Lohengrin“ geleitet, der in der Inszenierung von Hans Neuenfels in den letzten Jahren zu den erfolgreichsten Produktionen gehörte. Mit gerade mal 37 Jahren zählt der Lette schon zu den führenden Figuren in der internationalen Musikszene. Bereits mit 24 Jahren war er Chef der Lettischen Nationaloper Riga geworden, 2007 hatte ihn das City of Birmingham Symphony Orchestra als Nachfolger von Simon Rattle zum Chefdirigenten erkoren.
Bayreuther Festspiele Wie man im heißesten Festspielhaus der Welt überlebt
Wie man im heißesten Festspielhaus der Welt überlebt
Es gibt keine Strategie, Wagner in Bayreuth heil zu überstehen. Es gibt bestenfalls Möglichkeiten temporärer Linderung. Eine Annäherung. Von Egbert Tholl und Christian Mayer mehr …
Inzwischen leitet er mit dem Boston Symphony Orchestra eines der bedeutendsten amerikanischen Orchester, ab 2017 wird er als Leipziger Gewandhauskapellmeister eine der deutschen Traditionsstellen besetzen. Nelsons gehört zu jener Generation von Dirigenten, die das Beste eines neuen mit dem Besten eines alten Klangideals verbinden, musikalische Transparenz und Detailgenauigkeit mit der Fähigkeit zu großen Bögen und lodernder Leidenschaft. Für Wagner ist er damit wie geschaffen.
Anzeige
Er habe Dirigent werden wollen, seitdem er mit drei Jahren zum ersten Mal Wagners „Tannhäuser“ gehört habe, hat er einmal der Zeit erzählt.
Meterhohe Metallzäune umgeben das so friedlich stehende Haus
Umso drastischer ist nun sein Bruch mit den Bayreuther Festspielen, bei denen er dem Vernehmen nach ab 2020 den „Ring des Nibelungen“ dirigieren sollte. Die Festspiele äußerten denn ihr Bedauern auch in ähnlichem Wortlaut, allerdings mit einer entscheidenden Änderung. Leider hätten „die Umstände bei den diesjährigen Bayreuther Festspielen Andris Nelsons nicht die Atmosphäre ermöglicht, die er für seine künstlerische Arbeit benötigt“. Vielleicht habe ja das verschärfte Sicherheitskonzept auf dem Grünen Hügel den als sensibel geltenden Nelsons gestört, spekulierte der Pressesprecher gegenüber dem ortsansässigen Nordbayerischen Kurier.
Das Sicherheitskonzept ist in der Tat unübersehbar. Meterhohe Metallzäune umgeben das eigentlich so friedlich im Grünen stehende Haus auf allen Seiten, bewacht von Männern mit gelben Schutzwesten. Drei Millionen Euro sollen aufgewendet werden, die Proben und die auch von zahlreicher Politprominenz besuchten Festspiele vor möglicher Terrorgefahr zu schützen. Ohne Ausweis geht gar nichts mehr, kürzlich wurde sogar Parsifal-Darsteller Klaus Florian Vogt auf dem Weg zur Probe von der Polizei abgefangen. Der Aufwand wird von den Beteiligten allgemein als hysterisch empfunden.
Wer ihn derart in die Höhe getrieben hat, dafür weisen sich aktuell die Stadt Bayreuth und die Festspielleitung gegenseitig die Schuld zu. Zuerst hieß es, Regisseur Uwe Eric Laufenberg plane eine islamkritische Inszenierung des „Parsifal“, was vom Regisseur entschieden dementiert wird. Möglich, dass so viel Sicherheit eher das Unsicherheitsempfinden erhöht, aber dass ein ständig in engsten Terminplänen über sämtliche Flughäfen reisender Dirigent deshalb ein Eröffnungsdirigat absagt, ist nicht die wahrscheinlichste Antwort.
Ist man erst mal drin im Haus, hört man denn auch ganz anderes. Nelsons sei hochsensibel, das sei schon richtig, sagt ein Insider, der nicht genannt werden möchte. Deshalb habe er sich gegen die Übergriffigkeiten des selbstbewusst auftretenden Christian Thielemann nicht wehren können. Er habe sich die Vorschläge des 57-jährigen Kollegen angehört – und sei wahrscheinlich innerlich zunehmend vor Wut geplatzt. Am Ende wollte er aus einem bereits vorab vereinbarten Aufenthalt in Riga nicht mehr nach Bayreuth zurückkehren.
2015 hat Festspielchefin Katharina Wagner Christian Thielemann zum „Musikdirektor“ ernannt. Es ist ein Titel, den es in der Geschichte Bayreuths nie gab. Thielemann dirigiert selbst wie schon im vergangenen Jahr „Tristan und Isolde“, ansonsten hat er viel freie Zeit. Tatsächlich zählt Bayreuth nicht zu den leichtesten Aufgaben für Dirigenten. Er kann im verdeckten Orchestergraben nur schwer einschätzen, wie es im Zuschauerraum klingt.
Eine akustische Beratung für Neulinge mag da sinnvoll erscheinen, und niemand hat in Bayreuth mehr Erfahrung als Thielemann. Aber Nelsons ist kein Neuling. Thielemann mische sich fortwährend in alle Details der musikalischen Gestaltung ein, sagt der Insider. Robustere Charaktere wie Marek Janowski, der „Ring“-Dirigent, legten auch mal das Telefon auf, wenn Thielemann im Graben anrufe. Nelsons hat dafür anscheinend nun die Schnur durchgeschnitten.
„Ich bedauere das sehr, ich habe mich mit ihm gut verstanden“, sagt „Parsifal“-Regisseur Uwe Eric Laufenberg. Der Vorgang reiht sich ein in die Bayreuther Skandalserie der letzten Jahre. Inzwischen rechnet man fast schon damit, dass das Vorspiel spannender ist als die eigentlichen Festspiele. So wurde der Regisseur des laufenden „Rings“, Frank Castorf, erst in letzter Minute zu seinem Debüt auf den Hügel berufen.
Auch Laufenberg ist eigentlich ein Einspringer, nachdem vor eineinhalb Jahren der Vertrag mit dem Künstler Jonathan Meese ausgesetzt worden war. Beim „Tristan“ im vergangenen Jahr musste kurz vor knapp eine andere Isolde gesucht werden. Auch, dass Kirill Petrenko den „Ring“ nach drei Jahren abgab, soll dem Vernehmen nach bereits mit Thielemann zu tun gehabt haben. Katharina Wagner scheint kaum in der Lage zu sein, den normalen Betrieb zu gewährleisten.
Dass Nelsons nun als Erster den Weg in die Öffentlichkeit wählte und die Vertragsauflösung nicht wie in den anderen Fällen von beiden Seiten gemeinsam bekannt gegeben wurde, ist von maximaler Signalwirkung. Es setzt die Festspiele unter Druck, einen Nachfolger quasi vor den Augen des wartenden Publikums zu suchen. Fragt sich, wer unter diesen Umständen noch bereit sein wird. Thielemann, heißt es jedenfalls bislang, habe kein Interesse.