‚Was für ein schöner Sonntag‘ – Jorge Semprun und Buchenwald

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Buchenwald im Sommer.  Es ist Sonntag. Das Torgebäude im grellen Sonnenlicht. Links der so genannte Bunker, das Gefängnis im Lager für Häftlinge, einer der großen Folter- und Sterbeorte Buchenwalds. Rechts die Räume für die SS-Lagerverwaltung für den Tages- und Nachtdienst. In der Mitte das Tor mit dem Satz: „Jedem das Seine“.

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Immer wieder legen sich Eiskristalle auf die Seele, meint Volker Knigge, der Direktor der Gedenkstätte.  Er geht hinein in das Torgebäude, für Besucher gesperrt. Vorsichtig klettert er  die enge Stiege nach oben, es ist düster hier drinnen. Überall kleine Ecken, kleine Nischen, wie Taubenverschläge. Volker Knigge auf den Spuren des spanischen Schriftstellers Jorge Semprun, Buchenwaldhäftling. Draußen der Blick über das Lager. Knigge steht da, wo das Maschinengewehr stand mit dem der gesamte Apellplatz bestrichen werden konnte.

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Der Apellplatz auf dem die Häftlinge morgens und abends standen, sich zählen lassen mussten, einschließlich der, der Ermordeten. Knigges Blick hinunter ist die verlängerte Achse  zum Häftling Nummer 44904, Jorge Semprun. Der steht dort unten, blickt in die Mündung. Rechts von ihm ockerfarbene Kasernen, links das Kommandantenhaus mit Lampenschirmen aus Menschenhaut. Auf Knigges Netzhaut spiegelt sich die Szene. Es ist Sonntag. Ein heller Tag, ein heißer Tag. Knigge zieht aus seinem schwarzen Leinenjackett ein abgegriffenes blaues Taschenbuch. Auf dem Einband ein verschwommenes Bild, neblig, ein offenes Tor, Stacheldrahtzäune.

„Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1994“ als schwarzer Aufkleber. Jorge Semprun: „Was für ein schöner Sonntag“.

„Kumpel, was für ein schöner Sonntag!“ hat der Kumpel gesagt. Er betrachtet den Himmel und sagt zu den Kumpeln, dass es ein schöner Sonntag sei. Aber am Himmel sieht man nur den Himmel, die Schwärze des Himmels, die Finsternis des Himmels voller Schnee, der im Lichte der Scheinwerfer herabwirbelt. Ein tanzendes und frostiges Licht. Er hat das mit übertriebenem Gelächter gesagt, als sagte er: „Merde!“ Aber er hat nicht merde gesagt. Er hat gesagt: „Was für ein schöner Sonntag, Kumpel!“, auf Französisch, beim Anblick des schwarzen Himmels um fünf Uhr morgens.

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Knigge steckt das Taschenbuch weg, steht regungslos noch immer auf dem Platz, wo das Maschinengewehr stand. Er sagt nichts.  Am Himmel eine grelle Sonne. Ein Sonntag der Routine für Knigge mit Erklärungen,Antworten, Besuchergruppen.

Ein Sonntag, der für die Gefangenen im KZ immer etwas Besonderes war. Trügerische Ruhe, der krasse Gegensatz zum tödlichen Lager Alltag. Ein Tag, an dem man größere Gewissheit hatte, dass man heute nicht stirbt, morgen schon eher. Ein Tag, wie Knigge meint, an dem man einen Kumpel sehen konnte. Hoffnung zum Menschlichen, das große Thema für Semprun. Der Sonntagsblick über das Lager vom Torturm: Barackengrundrisse aus schwarzer Schlacke, zwei Wachtürme, Stacheldraht, eine Baracke im Häftlingsrevier, im Krankenblock – die Reste des Lagerzoos, Vergnügungsort der SS, direkt gegenüber dem Krematorium. Der große Schornstein auf dem Krematorium.Die Hitze hier oben wird unerträglich. Knigge steigt hinunter. Es riecht nach frischer Farbe, die Plattform wird aufmöbliert. Unten der Boden des Lagers, grauer Staub im gleißenden Sonnenlicht. Besuchergruppen gehen vorbei, Jugendliche in spärlicher Sommerkleidung, fröhlich lautstark. Für Knigge ist das in Ordnung, denn er will sich ja nicht zu einem Nekrophilen ausbilden. Hier geht es, gerade für die Jugendlichen, um Formen des konkreten Historischen und eben auch um Fragen, wie halte ich es  mit Solidarität und da ist man, laut Knigge, wieder bei dem großen Thema von Jorge Semprun. „Was für ein schöner Sonntag“, der Erfahrungsbericht des spanischen KZ Häftlings Nummer 44904, aber immer wieder gebrochen mit Erinnerungen an die Gegenwart, an die Prager Schauprozesse, dem Stalin Terror, Besuche in der DDR, die Abkehr vom Kommunismus, der Stempel ‚Renegat’. Knigge bewundert die Vielzahl der Semprunschen Tarnkappen. Immer wieder Besuchergruppen. Auf einer Bank im Schatten, direkt neben den Hundekäfigen der SS, ältere Amerikaner, einer mit Cowboyhut und Lederhosen. Volker Knigge nimmt noch einmal das Taschenbuch in die Hand, 395 Seiten Zeitgeschichte und Poesie. Ein leichter Windhauch bildet eine Krone aus seinem grauen, gelichteten dünnen Haar über hoher Denkerstirn. Die grün grauen Augen suchen die Stelle der Stille und des Todes.

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Die Stille ist etwas Seltenes, dicht und zugleich zerbrechlich. Der Rauch aus dem Krematorium ist mattgrau. Sie haben im Krematorium wohl nicht viel zu tun, wenn sie nur einen so dünnen Rauch erzeugen. Oder die Toten verbrennen gut. Die Ausgetrockneten Toten, die Leichen der Kumpel wie Weinranken. Sie schaffen uns diese letzte Blüte mattgrauen und dünnen Rauchs. Ein freundschaftlicher Rauch, ein sonntäglicher Rauch, gewiß. „Das ist nicht wahr“, sage ich. Wir gehen über den Appellplatz, Henk schaut mich an, er lächelt. „Nein, das ist nicht wahr“, sagt er, „das ist ein Traum.“ Wir gehen über den Appellplatz, in diesem Traum.

Der Gang über den Appellplatz, in diese Realität 2007. Grauer Staub, ein paar Steinchen, Schotter, Kies. Kein Grün, kein Gras. Ein heißer Sonntag. Über dem Schornstein des Krematoriums ein blauer Himmel, Federwolken. Da sind sie wieder, die Eiskristalle auf der Seele. Knigge wendet sich ab, geht zurück in das zwei stöckige Verwaltungsgebäude. Ein schnurgerader Gang, über 50 Meter lang, weiße Wände, weiße halbrunde Leuchten, an den Fenstern am Ende des Ganges Heizkörper, grau-bräunliche Kacheln, ein grauer Fußbodenbelag. Unten die Direktion, die Besprechungsräume, oben das Archiv, der Arbeitsplatz von Elena Rodriguez. Elena ist Spanierin, Mallorquinerin. Geschichtsstudium, Praktikum in Buchenwald. Randlose Brille, blaue Augen, ein langes, schmales Gesicht, große Ohrläppchen, ein beiger Pullover, hellbraune Haare zum Pferdeschwanz gebändigt. Einmal trifft sie in Buchenwald Jorge Semprun, nur kurz, aber die Begegnung mit einem Überlebenden hat sie bis heute nicht losgelassen. Auf ihrem Bildschirm ein Text aus Sempruns Roman, sein Arbeitsplatz in der Schreibstube

Am Ende des Verwaltungsraums voller Verwaltungsgegenstände: Karteikästen, Aktenordner, Register; Tische und Regale zur Unterbringung all dieser Gegenstände; Stühle, um unsere Ärsche vor diesen Verwaltungsgegenständen niederzulassen; Schränke, um diese wertvollen Verwaltungsgegenstände einzuschließen; also am Ende zwei Türen. Sonst läßt sich nichts über diese Einrichtung sagen.

Auch hier lauter Verwaltungsgegenstände: Aktenordner über Aktenordner mit Aufklebern: Kopien, Anfragen. Karteikästen in braun, Papierstapel kreuz und quer als geordnetes Chaos, das Merian Heft über Weimar. Links führt eine Tür in das eigentliche Archiv mit allen Unterlagen und Dokumenten, rechts führt eine Tür in einen kleinen Raum mit den Lesegeräten für die Mikrofilme. Sonst lässt sich nichts über diese Einrichtung sagen.

Elena tippt die Häftlingsnummer 44904 ein, Jorge Semprun, findet den Film in einer abgegriffenen Papphülle, legt ihn ein. Klicken, Sirren, Suchen. Schatten, Striche, nicht erkennbar, rasen vorbei. Aus Nummern werden Menschen, Schicksale, Geschichten. Sekunden für ein ganzes Leben . Dann auf mattem Bildschirm die Karte Semprun: die Kategoriennummer spanischer Häftling, katholisch, ledig, keine Kinder, der Name des Vaters, der Wohnort und das Datum der Verhaftung: 10. Oktober 1943 in Paris. Am 29. Januar 1944 die Einlieferung  nach Buchenwald.

Elenas Gesicht ist blass, leicht verschwommen im künstlichen Licht der Lesegeräte. Die Arbeit belastet sie immer wieder psychisch. trotzdem findet sie hier Erfüllung, will weitermachen und in den nächsten Jahren über das Schicksal der spanischen Häftlinge in deutschen KZs forschen. 4 Tage in der Woche arbeitet sie im Archiv, ein bisschen dazu verdient sie mit Spanisch Kursen an der Volkshochschule. Auf der Fahrt nach Weimar bleiben Fotos in der Erinnerung, Fotos von Ausgrabungen in Buchenwald, eine Schere, eine Puppe, eine Schreibmaschine, ein Kamm, gesägt aus einem Lineal.

Beklemmung, die Fahrt geht über die Blutstrasse, hier wurden Menschen wie Vieh von Weimar nach Buchenwald getrieben.

Vorbei am Bahnhof, der sich mit dem Schild ‚Kulturbahnhof’ schmückt, der Marktplatz mit dem Rathaus und den  Rostbratwürsten, das Hotel ‚Elephant’, mit Thomas Mann und ‚Lotte in Weimar’. Dann das Ziel, der Theaterplatz. Elena verschwindet zwischen Besuchergruppen.

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Vor dem Kulturtempel die beiden Heroen auf dem Sockel mit Lorbeerkranz: Schiller und Goethe. Daneben der Hausherr, Stephan Märki. Generalintendant. Weißes offenes Hemd, dunkle Sommerschuhe, keine Strümpfe, eine helle längsgestreifte Hose. Auch hier eine Begegnung mit Semprun. Märki hat ihn oft gelesen. In der rechten Hand das Taschenbuch. Viele kleine gelbe Merkzettel.Unter Karl August und seinen Nachfolgern wurde die Stadt ein liberaler Mittelpunkt der Künste und der Literatur. Dieser letzte Aspekt im Leben der Stadt wird, nicht ohne eine gewisse nebulöse Geschwollenheit, in einer Dokumentensammlung über das Konzentrationslager am Ettersberg stark hervorgehoben. Mit Goethe traf sich die ganze intellektuelle Elite von Weimar gern auf dem Ettersberg, um die Ruhe und die frische Luft zu genießen.

Märki schlägt das Taschenbuch zu, blickt hinauf zu Schiller und Goethe. Beide kriegen auch nicht Weimar, den Ettersberg und Buchenwald auf die Reihe, sondern blicken weg. Goethe erhaben nach rechts unten, Schiller-leicht arrogant- nach links oben. Hochkultur, Aufklärung, Humanismus und dann Kälte, Grausamkeit und Mord. Eine Verbindung sieht Märki nicht. Jede Verbindung, die man zieht, führt in die Irre. Beides ist zwar hier entstanden, räumt er ein, Hochkultur und Buchenwald und bei seiner Arbeit am Theater denkt er natürlich an diese beiden Dinge, aber seiner Meinung nach lassen sich für einen reflektierenden Menschen Verbindungen nicht ziehen.

Märki ist Schweizer, war Fotograf, Werbeleiter, Journalist, fuhr professionell Autorennen, wurde Schauspieler, Theatergründer und Intendant. Erst in Potsdam, dann in Weimar. Im Theater die  Umbauarbeiten für die Abendvorstellung „Der kleine Horrorladen“, ein Musical. Im Zuschauerraum kaum Licht, die Sitze sind abgedeckt, auf der hell erleuchteten Bühne schweben Möbelteile durch die Luft, Türen, halbe Zimmer. Dazwischen die Technik, die Bühnenarbeiter. Musik. Für Märki Momente der Entspannung in der permanenten Auseinandersetzung um Existenzen, Konzepte, um Kunst. Er schlägt Semprun auf, auch der schreibt darüber, im Gespräch mit Eckermann und Goethe auf dem Ettersberg, als Zeitsprung in die Gegenwart des Konzentrationslagers.

Ich glaube, dass der Intellektuelle der Politik, den Machthabern gegenüber nicht gleichgültig sein kann, dass er diesen Ratschläge erteilt und seine Geistesblitze mitteilen muss, unter der Voraussetzung freilich, dass er sich von der unmittelbaren Ausübung besagter Macht fernhält. Denn die Intelligenz und die Macht sind dem Wesen nach völlig verschieden. Daher erleiden die echten Intellektuellen nur Schiffbruch, wenn sie sich so weit pervertieren, dass sie sich zur unmittelbaren Ausübung der Macht bereit erklären.

Der Text hat hier im Theater eine starke Wirkung. Märki ist nachdenklich, es arbeitet in ihm, der Körper wippt vor und zurück, die Augen leicht zusammengekniffen. Seine kurzen schwarzen Haare weisen nach vorn, im Dämmerlicht leichte weiße Einsprengsel. Ein weißer 2-3 Tage Bart. „Roman und Theater ergänzen sich“, meint er.  Natürlich ist auch ihm bewusst, dass der Intellektuelle seine Wirkung und seinen Einfluss verliert, wenn er sich mit der Macht verbindet. Als Generalintendant hat er in Thüringen eine Machtposition, hat großen Einfluss. Politik und Macht als tägliches Brot, die Unterscheidung ist für ihn relevant. Er zieht Grenzen, um seine Wirkung und damit seinen Einfluss nicht zu verlieren. Märki blickt sich noch einmal im Theater um, in den leeren Zuschauerraum, hinauf zu den Rängen, düster abgedunkeltes Rot. Er kennt seinen Semprun, erinnert an eines der Vorworte im Roman von Milan Kundera: ‚ der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf der Erinnerung gegen das Vergessen’. Deshalb macht er hier  im Theater im nächsten Jahr ein Projekt mit Volker Knigge. Es wird der Versuch, eine Strasse der Menschenrechte zu begehen.

Erinnern hat für ihn immer etwas mit Lebendigkeit, mit Wandel und mit Blick auf die Zukunft zu tun.

Auf der Bühne formt sich die Kulisse, die Technik gibt ihr ‚ok’, der Bühnenboden wird gefegt, Märki ist zufrieden, blickt auf die Uhr, muss zu einer Probe: ‚Judith’ von Hebbel – geht hinaus. Draußen hüpft ein einsamer Skater über den Theaterplatz, ziehen Besuchergruppen vorbei, Tauben und Spatzen im Kampf um Krümel. Die Sonne brennt. Eine Drossel versucht kunstvolle Triller, kapituliert vor der Hitze. Ein Sonntag in Weimar und Buchenwald.

Jorge Semprun
Jorge Semprun

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