Sie spielte halt: Inge Keller war die Eliza Doolittle am Berliner Ku’damm, die Iphigenie am Deutschen Theater und eine Aristokratin in der DDR. Nun ist die große Schauspielerin gestorben. Ein Nachruf.
Ein Gesicht so hoch. Vom unteren Zeitungsrand bis ganz oben, und in der Mitte zwei Riesenpunkte. Zwei den Betrachter durchdringende Augen, fragend, allwissend. Dazu Lippen: breit, aufreizend, abweisend. Mit Spott im Mundwinkel. Ein wahrlich erhabenes Antlitz: hellwach und doch seltsam von Müdigkeit umhaucht. Streng und sanft zugleich. Eine einzige Irritation, dieses sehr aus üblicher Art schlagende Titelblatt der DDR-Fernsehillustrierten, das wir uns einst – noch in Schwarz-Weiß – an die Wand pinnten. Und nach Jahrzehnten noch im Hirn haben. Es war ein Rollenfoto: Inge Keller 1962 als Goethes Iphigenie an Berlins Deutschem Theater.
Gern gab die Keller ihre „Iphigenie-Anekdote“ zum Besten: Sie wollte endlich auch „theoretisch gerüstet“ sein, hatte „reichlich Literatur studiert“. Auf der Probe dann mit Regisseur Wolfgang Langhoff spielte sie „gerüstet“, fand sich „enorm“. Doch Langhoff nahm sie beiseite und raunte: „Ach, Ingelein, sei doch wieder doof.“ ‑ „Tja, ich spiele halt. Nix weiter“, so sprach sie bis zuletzt ganz untheoretisch; mit spitzem Unterton. Am Montag nun ist Inge Keller in Berlin verstorben.
Wer je ihre Stimme hörte, vergisst sie nie. Letztens etwa mit einem Text von Stefan Zweig. Oder, noch kurz vorm 90. Geburtstag zum 70. Bühnenjubiläum, mit einem Monolog von Christoph Hein über Tilla Durieux. Eine harmlose Anekdotenplauderei, von der Keller in statuarischer Haltung (zwei kaputte Hüften) und lebensweiser Lässigkeit abgründig grundiert. Gerahmt von einer das Alter subtil ironisierenden Sprechlangsamkeit: die Konsonanten hell und scharf, die Vokale weich und dunkel. Große Zungen- und Kehlkopfkunst. Sie war ja überhaupt eine enorme Formerin. Diese letzte Diva alter hoher Schule.
Nie zu viel Gefühl, nie zu viel Verstand
„Hier spricht die diensthabende Gräfin der Deutschen Demokratischen Republik“, so hat sie sich, die Berliner Unternehmertochter vom Jahrgang 1923, einst jahrelang am Telefon gemeldet. Die Keller als wandelnder Anachronismus. Als damenhafter Typ, dessen äußerliche Kühle ein entflammbares Temperament abdeckt – selbst als Tragödin. Ihre Goethe-Iphigenie galt als Gipfel „gepflegt durchstilisierter“ Form. Und war Schlusspunkt zugleich. Fortan trat die Machart impressionistischer Ausdeutungsgenauigkeit in den Hintergrund, mit der die Keller groß und zur großen Spielerin geworden war (Emilia in „Othello“, Goneril im „Lear“).
Auch am DT rückten Regisseure „die Kreativität“ einer Figur, ihre „soziologische Struktur“ in den Mittelpunkt. Was man aus und mit dem Theater alles machen kann, das wurde wichtiger als betonter Seelenrealismus. Die Zeit ging hinweg über die diensthabende Aristokratin, über die Virtuosin der getüftelten Form, des inneren Gestimmtseins. Sie galt als schwierig und aus der Zeit gefallen. Und stand länger als ein Jahrzehnt nur noch auf der DT-Gehaltsliste, nicht aber auf der Bühne. Schwere Krise!
Erst 1980, mit Regisseur Alexander Lang, kam die Wende: Sein Coup: Er besetzte die Endfünfzigerin sensationellerweise als Dantons Geliebte Julie in „Dantons Tod“ von Georg Büchner: Julie als Zuflucht für Danton, als eherner, souveräner Gegenpol zur vibrierend kindchenhaften Sinnlichkeit der Hure Marion. Die Keller war wieder da! „Ich spielte halt“, gab sie lapidar zu Protokoll. „Nicht mit zu viel Gefühl, nicht mit zu viel Verstand.“ Klingt einfach, ist aber schwer zu machen. „Und nicht ohne Handwerk, ohne Konzentration auf Dichters Wort.“ In der Unterwerfung unter die Dichtung – Dichtung, sagt sie, nicht Text – liege der „schönste Sieg des Spiels“.
Entrückte Ewigkeitsfigur
Zu DDR-Zeiten war Inge Keller eine Privilegierte, noch dazu eine Zeit lang verheiratet mit dem führenden SED-Propagandisten Karl-Eduard von Schnitzler. Ihr luxuriöses Leben lang hing sie, die vornehm Herrische, an sozialistischen Idealen. Passte nicht recht zum piefigen Land, dessen grausame Wirklichkeit sie nie recht wahrnahm, was sie im Nachhinein zerknirscht gestand. „Die Verdrängungsmaschine hat Zeit meines Lebens bestens funktioniert. Am Ende ist sie mir kaputtgegangen. Auschwitz und Stalin, das ist für ein Leben zu viel. Wer darüber nicht den Verstand verliert, der hat keinen.“
Begonnen hatte Inge Keller, stammend aus dem gutbürgerlichen Berliner Westen, in ihrer Heimatstadt. Die blieb das Zentrum ihrer Karriere. Das Debüt gab sie 1942 im Theater am Kurfürstendamm als Eliza Doolittle in Shaws „Pygmalion“. Doch ihre Triumphe sollte die Keller im Osten der geteilten Stadt feiern. Mit der deutschen Wiedervereinigung avancierte sie zum allseits gefeierten Star im Hauptstadttheater. Seit 1950 gehörte Inge Keller zum Ensemble des Deutschen Theaters, fand ‑ trotz besagter Schwierigkeiten ‑ an diesem „einer Stradivari gleichenden, schönsten Haus der Welt“ ihre großen Rollen wie Sternheims Tugendjungfer Elsbeth Krull, Molières Elmire oder Frau Alving in Ibsens „Gespenstern“.
Nach 1990 faszinierte sie als die erhaben grantig-zynische Zachanassian in Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“. Und in geradezu marmorner Archaik in Ulrich Mühes Heiner-Müller-Inszenierung „Der Auftrag“ oder in den artifiziell wuchtigen Produktionen von Einar Schleef, Robert Wilson, Michael Thalheimer – in dessen „Faust“ als entrückte „Ewigkeitsfigur“.
Mit Müh’ und Not
Bei allem kompromisslosen Willen zur Form war die Keller doch niemals glatt. Als preußisch Korrekte, hart arbeitende Künstlerin – so ihr Selbstbild – gelangen ihr nuancierte Figurenzeichnungen selbst extremer Charaktere. Und die ihr eigene Grandezza gab allen ihren Darstellungen etwas, was zwar bewundert, aber heutzutage doch gern als altmodisch abgetan wird: nämlich Noblesse. Max Reinhardts Zauberwort vom „Glanz“, ohne den Theater gleich welcher Art nichts sei, das hat sie verinnerlicht. Bei allen Brechungen: Es war ihr Wesen.
„Die Welt ist aus den Fugen, und ich sitze im Warmen. Ich müsste so glücklich sein“, sagte sie, als sie siebzig war. Doch das Erinnern sei ihr die Hölle, kein Paradies, klagte sie bis zuletzt. „Das schwere, einsame Alter“ gehe einher mit zu viel Totenbeschwörung. Sie quälte sich sehr mit dem Gedanken an das, was der ihr eigene „verdammte Absolutismus“ alles zerstört habe im Leben, gestand sie mit leiser Verbitterung in ihrem feinen Zuhause mit Panoramafenster ins Grün von Berlin-Niederschönhausen, das sie seit 1961 bewohnte. Und das im seligen Gedenken an Iphigenie ihr „Tauris“ war.
„Die totale Abhängigkeit von allem und jedem ist das Entsetzliche meines Berufs.“ Doch der blieb dennoch ihr Ein und Alles, ohne Rücksicht auf Verluste wie Freundschaft, Liebschaft, Liebe, Familienidyll. Das alles habe sie „nie wirklich durchlebt“. – „Defizite!“ ‑ „Mein wahres Leben hat sich immer nur auf der Bühne abgespielt. Das war mein Ort zum Überleben. Das Leben draußen war mir stets bloß Schein“, gestand sie uns einst, schon jenseits der Achtzig, leise mit Blick ins Leere. Der vielleicht kitschige Opernsatz „Nur der Kunst weiht’ ich mein Leben“ war das in Stein gemeißelte Motto von Inge Keller. Und im Edelholzschubfach auf „Tauris“, ganz hinten verkramt, der DDR-Nationalpreis Erster Klasse und der Verdienstorden vom Land Berlin.
Der selten satt machende Ruhm bedeutete ihr viel – und wenig zugleich. „Ja, an diesem Irrsinn kann man verrückt werden.“ Die Keller hat ihn, von uns und von außen gesehen, königlich durchgestanden. Ein triumphales Dasein, tragisch umflort. „Nur mit Müh’ und Not zu ertragen.“ Nun ist’s vollbracht. Inge Keller wurde 93 Jahre alt.