Langjähriger Feuilletonchef und SZ-Kritiker Joachim Kaiser ist tot
Er war jahrzehntelang der wohl einflussreichste deutsche Musikkritiker und eine prägende Stimme der Süddeutschen Zeitung. Nun ist Joachim Kaiser im Alter von 88Jahren gestorben.
Nachruf von Andrian Kreye
Joachim Kaiser ist gestorben. Mit ihrem langjährigen Feuilleton-Chef, Kritiker und leitenden Redakteur verliert die Süddeutsche Zeitung ein Stück ihrer Geschichte und auch ihrer Identität. Nur wenige Journalisten haben es geschafft, nicht nur ihre Zeitung, sondern gleich ihr ganzes Land so zu prägen wie Joachim Kaiser.
Als man ihn einmal fragte, warum es solche Titanen der Kulturkritik wie ihn nicht mehr gebe, vielleicht nie mehr geben könne, antwortete er: „Weil die jungen Menschen keinen Mut zum Pathos haben.“ Das war, wie so oft in seinen Beurteilungen, so ironisch wie treffend. Wobei für ihn Pathos stets ein Synonym für Leidenschaft war. In seinem Falle die Passion für die klassische Musik (vor allem für Pianisten und die Werke Richard Wagners), für das Theater (William Shakespeare und Samuel Beckett waren seine Favoriten) und die Literatur. Letztere war der Beginn seiner Laufbahn als große Stimme des intellektuellen und gebildeten Deutschland.
Am 18. Dezember 1928 als Sohn eines Landarztes im ostpreußischen Milken geboren, ging er zunächst in Hamburg auf die Schule, studierte dann Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Göttingen, Tübingen und Frankfurt am Main.
Kaiser war kein großes Talent, das sich entwickelte. Sein Intellekt bahnte sich vom ersten Moment einen machtvollen Weg durch das deutsche Geistesleben. 1951, mit 22 Jahren, verfasste er einen Aufsatz über das Buch „Philosophie der neuen Musik“ seines Lehrers Theodor W. Adorno. Der Text brachte ihm erste Aufträge beim Hessischen Rundfunk und bei den Frankfurter Heften ein.
In den ersten Jahren bei der SZ war Joachim Kaiser noch ganz der klassische Feuilletonist
Keine zwei Jahre später lud ihn der Schriftsteller und Impresario der deutschen Nachkriegsliteratur Hans Werner Richter zur Gruppe 47 ein. Der Literatenzirkel, benannt nach seinem Gründungsjahr, war der innerste Kern des deutschen Geisteslebens nach dem Kriegsende. Einmal im Jahr trafen sich zunächst Schriftsteller, später auch Kritiker und Intellektuelle, um sich gegenseitig Texte vorzulesen. Heinrich Böll gehörte zu dem Kreis, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger, Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger.
Kaiser profitierte von diesen Treffen ungemein. Es war nicht nur so, dass ihn die Zugehörigkeit intellektuell adelte. Hier war er Teil der frühen Kulturgeschichte der Bundesrepublik. Heinrich Böll und Günter Grass lasen aus Werken im Entstehen. So konnte Kaier, als er 1959 in die Kulturredaktion der Süddeutschen Zeitung eintrat, mit einem Gespür über Literatur schreiben, das weit über seine sowieso beeindruckende akademische Bildung hinausging.
In den ersten Jahren bei der SZ war Joachim Kaiser noch ganz der klassische Feuilletonist. Es gab kaum ein Thema, über das er nicht geschrieben hätte. Das Spektrum reichte von Konzert-, Theater- und Literaturkritiken über Texte zur Politik, Betrachtungen über die Popkultur des Fernsehens und Glossen, die sich mit der Debattenkultur seiner Zeit oder mit dem Skandalmord an der Prostituierten Rosemarie Nitribitt auseinandersetzten.
Sein enormer Bildungsschatz sorgte selbst bei Themen, die ihm fremd waren, dafür, dass er nie dilettierte. Eine Besprechung eines Konzertes des Jazzklarinettisten Benny Goodman im Oktober 1959 begann er beispielsweise mit dem Satz: „Jazzfans können demjenigen, der keiner ist, schon Angst einjagen.“ Anderthalb Jahre später sezierte er ein Konzert des Jazzpianisten Oscar Peterson dann mit dem Ohr des Musikwissenschaftlers: „Aber dann kamen die kleinen Wunder. Der Reichtum der Nebenstufen, die in irrwitzig raschen Zweiunddreißigsteln mit zauberkünstlerhafter Sicherheit erreicht und wieder verlassen werden, seine Fähigkeit, über harmlose, schlagerhafte ‚Evergreens‘ gläserne Harmonien zu legen, sie mit einer rhythmischen Flexibilität ins Spiel zu bringen, deren Hervorstechendstes nicht etwa die Betonung der Synkope, sondern eher deren Understatement bildet. … Kein Zweifel: Jazz authentisch vorgetragen, bietet das, was kein großer zeitgenössischer Komponist, Maler oder Poet ihm geben kann: den ungebrochenen Schwung, die Ekstase die Freude an der stretta (hier wohl „riff“ genannt).“
Bald schon war Joachim Kaiser neben seinem Freund und Konkurrenten bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Marcel Reich-Ranicki, einer der Kritiker, die den Kanon der Bundesrepublik bestimmten. Sie hatten eine wichtige Rolle zu spielen. Bildung und Hochkultur waren im Nachkriegsdeutschland für das Bürgertum gleichzeitig Flucht und Rettung aus einer finsteren Vergangenheit, in der die NS-Diktatur Kultur zum Propagandainstrument für die Massen reduziert hatte.
„Es ist mir eigentlich egal, wer unter mir Feuilleton-Chef ist“
Joachim Kaiser führte seine Leserschaft mit einer Eleganz in neue Höhen der Kultur, die ans Missionarische grenzte. Es war ihm ein innerstes Anliegen, die wahren Qualitäten der Musik, des Theaters und der Literatur zum allgemeinen Kriterium zu machen. Weil er aber den Kanon bestimmte, konnte er bald auch Karrieren lancieren. Oder auch beenden.
Er war nie ungerecht. Aber er konnte grausam sein. Vor allem, wenn er den Gegenstand seiner Betrachtung, seien es das Werk oder die Interpreten, wirklich liebte. Eine Konzertkritik der Pianistin Maureen Jones begann er mit den Worten: „Es müßte ein Gesetz erlassen werden, das mit härtesten Strafen denjenigen bedroht, der in Klavierabenden Mozart zum Einspielen benutzt. Mehrere Jahre Gefängnis wären dann der Pianistin Maureen Jones sicher, die Mozarts D-Dur-Rondo derb, willkürlich und unter Hinzufügung vieler falscher Töne hinrichtete. Dabei ist sie, der weitere Verlauf des Konzertes lehrte es, nicht nur eine recht gute, sondern auch eine gescheite Pianistin.“ Eine Besprechung eines Konzerts des noch jungen, kaum bekannten Alfred Brendel schloss er 1965 mit der scharfen Beobachtung: „Der Umstand, daß viele andere geistloser, schlechter und uninteressanter spielen als er, darf ihn nicht beruhigen.“
Viele große Musiker begleitete er über die Jahre
Für das aufblühende Bildungsbürgerpublikum fand er oft die Worte, die das gerade Erlebte nicht nur in den kulturwissenschaftlichen Kontext setzten, sondern auch der Leidenschaft einen Rahmen gaben. Als Karl Böhm das „Rheingold“ in Bayreuth dirigierte, war der Auftakt seines Textes deutlich sowohl für die, die dabei waren, als auch die, die den Abend versäumt hatten, geschrieben: „Als das tiefe Es aus dem Grunde des Rheins herauftönte ins Bayreuther Parkett, sich nach einem Augenblick des Zögerns mit einer Quinte verband, dann summend und brausend in langsame Bewegung geriet, so daß das Festspielhaus erfüllt war von leisem, bedächtigem Rauschen: da wußte man, daß man sich nicht umsonst auf den neuen Bayreuther Ring gefreut hatte. Denn wie kein anderer Dirigent weiß Karl Böhm, was Ruhe ist, weiß er, daß die Gewalt des wagnerischen Forte nicht nur von der Stärke des Blechs abhängt, sondern davon, daß vorher wirklich ein reines, erfülltes Piano war.“
Viele große Musiker begleitete er über die Jahre, Pianisten vor allem wie Alfred Brendel, Vladimir Horowitz, Arthur Rubinstein, Friedrich Gulda. Aus seiner Radiosendereihe „Die großen Pianisten unserer Zeit“ beim Bayerischen Rundfunk wurde ein Buch, das wiederum zum Bestseller und Grundlagenwerk wurde. Er konnte aber nicht nur den musikalischen Kontext herstellen. Stardirigent Herbert von Karajan etwa war für Kaiser immer auch ein gesellschaftliches und wirtschaftliches Phänomen.
Seine Funktion als Feuilleton-Chef gab er 1977 auf, um in Teilzeit als Professor an der Hochschule für Musik und darstellende Künste in Stuttgart zu lehren. Seine Rolle in der Zeitung behielt er. Oder wie er es später mal ausdrückte: „Es ist mir eigentlich egal, wer unter mir Feuilleton-Chef ist.“
Sein Kosmos blieb ansonsten Zeit seines Lebens in erster Linie München mit seinen Satelliten der Festspielorte Salzburg und Bayreuth. Hier waren seine Stammleser, die er so souverän durch ein ganzes Leben voller Kultur führte. Hier lebte er in einem wunderschönen Haus am Rande des Englischen Gartens, von dem er mit dem Fahrrad bis ins hohe Alter in die Redaktion fuhr.
Bis fast zuletzt eroberte er sich mit seiner missionarischen Leidenschaft immer neue Menschen. Er unterrichtete an der Volkshochschule. Er sprach im Radio, im Fernsehen. Seine Stimme mit dem rollenden R und den feinen Nachsilben seines ostpreußischen Dialekts verliehen seinen Worten schon vom Klang her ein Gewicht, das er mit seiner Formulierungskunst erdete. Das hatte auch etwas Verführerisches. Die CD-Box „Der Klavier-Kaiser“ von 2004 und seine Videokolumne auf der Webseite des SZ-Magazins, die er von 2009 bis 2011 führte, brachten ihn noch einmal einer jungen Generation nahe.
Dann wurde es ruhiger um ihn. Krankheiten machten es ihm immer schwerer, Vorträge zu halten, Texte zu schreiben. Vor einigen Jahren ist er verstummt. Lange noch erreichten das Feuilleton fast täglich Briefe und Anrufe, wo die Texte Joachim Kaisers blieben, wann er wieder schreiben, wenigstens im Netz sprechen würde.
Am Donnerstagnachmittag ist Joachim Kaiser nach längerer Krankheit in München gestorben. Er wurde 88 Jahre alt.